»Wir werden nur als Schüler gesehen«
Die Homeschooling-Zeit verstärkte soziale Ungleichheiten und dem Bildungswesen immanente Verwertungslogiken
Von Karl Müller-Bahlke und David Pape
In den ersten Bundesländern hat die Schule seit Anfang August wieder geöffnet. Während Lehrergewerkschaften, Landes- und Elternvertreter*innen bestehende Konzepte kritisieren, sind die Auswirkungen des letzten Pandemiehalbjahres noch kaum absehbar. Schon während der Diskussionen darum, wie mit Schule und den Schüler*innen unter der Pandemie umzugehen sei, fühlten sich viele Jugendliche übergangen. Zu diesem Ergebnis kommt etwa eine Studie der Universität Hildesheim, für die über 5.000 Jugendliche befragt wurden. Was sich in der Studie abzeichnet, fasst ein Jugendlicher exemplarisch zusammen: »Wir Jugendlichen werden doch nur als Schüler gesehen. Wir sollen lernen und lernen und lernen. Warum wird darüber diskutiert, die Sommerferien zu kürzen. Politiker denken wie Kapitalisten.«
Es ist ein offenes Geheimnis, das dabei am Ende vor allem diejenigen zurückbleiben, die auch in der allgemeinen Konkurrenz den Kürzeren ziehen. Das fängt bei der Konzipierung des letzten Halbjahres als Online-Unterricht an, für den die technischen Voraussetzungen bei vielen Kindern und Jugendlichen gar nicht gegeben waren. Denn obwohl Skype, Facetime usw. schon seit mehreren Jahren im Alltag präsent sind, sind ihre technischen Anforderungen hoch. Das Smartphone oder der Familienlaptop reichte dafür schnell nicht mehr aus, wenn dieser schon ein paar Jahre auf den Buckel hatte. Der von der Großen Koalition beschlossene PC-Zuschuss für Hartz-IV-Bezieher*innen in Höhe von 150 Euro war nicht einmal der berühmte Tropfen auf den heißen Stein. Der Gerichtsbeschluss des Sozialgerichts Köln billigte – wenn auch erst zum Sommerferienstart – den Familien immerhin 240 Euro zu.
Neben einer stabilen Internetverbindung und einer angemessenen technischen Ausstattung braucht es einen ruhigen Platz zum Lernen. Während Büchereien und Bibliotheken geschlossen waren, war entspanntes Lernen in Wohnungen mit mehr Menschen als Zimmern ein Ding der Unmöglichkeit. Ob die Eltern bei dem Stoff helfen konnten, hing nicht nur von ihrem Bildungsstand, sondern auch von der Qualität der Schule ab und davon, ob sie die Möglichkeit hatten, ins Homeoffice zu gehen. Viele Eltern in »systemrelevanten Berufen« bringen nicht nur weniger Geld nach Hause und haben ein ungleich höheres Infektionsrisiko, weil sie den ganzen Tag unterwegs sind, sie haben oft auch keine Zeit, die Schule der Kinder engmaschig zu begleiten.
Resigniert und allein gelassen
Wurde in den ersten Wochen noch versucht, sich mit den Kindern und Jugendlichen hinzusetzen und Schularbeiten zu korrigieren, führte diese unangenehme Doppelrolle als Elternteil und Lehrer*innen oft zu Konflikten zu Hause, die viele Familien resignieren ließen. Ähnliches galt an vielen Orten auch von Seiten der Schule: Während zu Beginn noch versucht wurde, die Familien mit regelmäßigem Feedback zu unterstützen, erwies sich der Arbeitsaufwand bald als zu hoch und die Eltern und Kinder waren wieder auf sich allein gestellt. Auch hier unterschied sich aber logischerweise das Angebot je nach finanzieller Ausstattung der Schule.
Zu all diesen materiellen Schwierigkeiten kommt die psychische Belastung für junge Menschen, die die Existenzängste ihrer Eltern spüren und zu Hause täglich mit diesen leben müssen. Die Angst um die Existenz der Eltern, aber auch um deren körperliche Gesundheit in Berufen ohne Homeoffice-Option prägt während der Pandemie das Leben Millionen junger Menschen und zerstört das für ein gutes Aufwachsen unbedingt nötige Gefühl der Sicherheit.
Auf die Mehrfachbelastung durch Schulaufgaben und Familienleben, die dies gerade für ältere Schüler*innen bedeuten kann, macht Lou, Schülerin vom Immanuel-Kant-Gymnasium in Hamburg-Harburg aufmerksam. »Wenn ich eh Zuhause bin, kann ich noch mal ne Stunde auf meine kleine Schwester aufpassen.« Es sei bei der Ausgestaltung des Homeschooling insgesamt wenig um die unterschiedlichen Voraussetzungen der Schüler*innen gegangen. So mussten »Freunde, die keinen Laptop hatten, über Handys die Aufgaben bearbeiten, während die Lernplattformen nicht für die mobile Ansicht geeignet waren. Diese unterschiedlichen Voraussetzungen wurden in der Notengebung nicht berücksichtigt.« Überhaupt sei sehr viel benotet worden, betont die 17-Jährige: »Es wurde viel mehr benotet als sonst. Sonst kann man sich auch immer mündlich beteiligen, aber wenn man was während Corona nicht abgeben konnte, gab es direkt null Punkte.«
Die Schule ist nicht nur Selektions- und Ausbildungsort, sondern ganz zentral auch eine Verwahranstalt für junge Menschen, die noch nicht als Arbeitskräfte eingesetzt werden können.
Gegen den ungerechten Notendruck wehrten sich auch bundesweit viele Schüler*innen der Abschlussjahrgänge und forderten die Möglichkeit einer Durchschnittsnote für ihre Abschlussprüfungen. In Hamburg wurden während der Abiturvorbereitungen 2020 Stimmen von Schüler*innen laut, die Abiturprüfungen auszusetzen. Sie richteten sich mit einem offenen Brief an den 1. Bürgermeister und den Bildungssenator: »Wir sind Kinder und Jugendliche, die in einer Zeit funktionieren sollen, wo das gesamte soziale Leben und die gesamte Wirtschaft zum Erliegen gebracht wurden. Die Regierung verspricht dieser Wirtschaft sogar finanzielle Unterstützung, ohne ein Limit zu setzen! Und wir müssen Leistungen erbringen, die bewertet und unsere Abschlussnoten bestimmen werden, ohne dass Rücksicht auf uns genommen wird.«
Lou wiederum kritisiert außerdem, dass der Unterricht auf die Bedürfnisse der Lehrer*innen zugeschnitten gewesen sei: »Es wurde vor allem darauf geachtet, was für die Lehrer gut funktioniert, ohne dass das an die Bedürfnisse der Schüler*innen angepasst wurde. Das führte zum Beispiel dazu, dass Aufgaben über fünf verschiedene Kanäle gestellt wurde, weil die Lehrer sich nicht auf eine Plattform einigen konnten.«
Ziemlich viel Verwahrung
Während die Pandemie die sozialen Ungleichheiten im Bildungswesen und insgesamt im Leben von Kindern und Jugendlichen verschärft, legt die Krise auch eine entscheidende Funktion der Schule in Bezug auf Eltern offen: Die Schule ist nicht nur Selektions- und Ausbildungsort, sondern ganz zentral auch eine Verwahranstalt für junge Menschen, die noch nicht als Arbeitskräfte eingesetzt werden können. Der ökonomische Druck, die Schulen wieder zu öffnen, ist gewaltig; auf eine Doppelbelastung der Eltern als Arbeitskräfte und Vollzeit-Erziehungspersonen ist der moderne Kapitalismus nicht ausgelegt. In der Krise wird gesellschaftlich sichtbar, was sonst nur für Schüler*innen spürbar ist: Dass ein guter Teil ihrer Zeit in der Schule der reinen Verwahrung dient.
Und auch außerhalb der Schule wurde die Verwahrung von insbesondere proletarischen Jugendlichen zum Problem. Schließlich unterscheiden sich auch die Möglichkeiten der Freizeitgestaltung während der Pandemie noch deutlicher als sonst. Viele ehrenamtlich organisierte Ferienfreizeiten von Jugendverbänden und Jugendzentren, die normalerweise eine kostengünstige Alternative zum teuren Auslandsurlaub sind, wurden aufgrund der Unsicherheit und unklarer Auflagen abgesagt. Währenddessen konnten kommerzielle Anbieter und Fluggesellschaften ihre wirtschaftliche Macht spielen lassen, um Genehmigungen für ihre Angebote zu bekommen. Aber auch im Alltag haben sich die Freiräume von Kindern und Jugendlichen geschlossen.
Polizeiwillkür bei der Durchsetzung der sich ständig ändernden Sicherheitsauflagen im öffentlichen Raum trifft junge Menschen besonders hart. Während ein Großteil der Gastronomie bereits aufmachen konnte, blieb denjenigen, die sich keinen Restaurantbesuch leisten können, nur der öffentliche Raum als Corona-sicherer Treffpunkt. Da aber Jugendliche im öffentlichen Raum vor allem als Störfaktoren wahrgenommen werden, führte das unweigerlich zur Konfrontation mit den Sicherheitsbehörden, die ihrerseits mit großer Brutalität gegen die Jugendlichen vorgingen. Am stärksten betroffen waren nicht-weiße Jugendliche, die diesen Sommer reihenweise von den öffentlichen Plätzen geprügelt wurden, flankiert von Medienkampagnen über marodierende Party-Banden.
Sowohl das Beharren auf Prüfungen unter extrem ungleichen Bedingungen als auch die staatliche Gewalt gegen Jugendliche zeigen, dass es anscheinend erst mal kein Interesse an einem guten Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen gibt, sondern man sie tatsächlich nur als Schüler*innen und zu verwahrende zukünftige Arbeitskräfte sieht. Die Interessen von proletarischen Schüler*innen werden solange nicht berücksichtigt werden, ehe diese nicht selbst anfangen, sich dafür zu organisieren.