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»Bischofferode zeigt, dass Arbeitskampf nicht sinnlos ist«

Der Historiker Christian Rau über die Proteste der Kalikumpel in Nordthüringen und ihre heutige Bedeutung

Interview: Sebastian Bähr

Straße durch den Ort Bischofferode, im Hintergrund der alte Kali-Schacht
1993 von der Treuhand unter großem Protest abgewickelt: das Kali-Bergwerk in Bischofferode (im Bild hinten, daneben die Thomas-Müntzer-Siedlung). Foto: Achiv45 / Wikimedia Commons, CC BY-SA 2.0 DE DEED

Von 1990 bis 1994 privatisierte die Treuhandanstalt die ostdeutsche Wirtschaft. Unter ihrer Regie wurden alle 8.500 Volkseigenen Betriebe (VEB) mit insgesamt 3,5 Millionen Beschäftigten zerschlagen und in 12.000 Betriebsteile zerlegt. 3.700 wurden stillgelegt, der Rest privatisiert, vor allem an westdeutsche Unternehmen. Etwa drei Viertel aller Beschäftigten der DDR verloren in den ersten Jahren nach der Wende zwischenzeitlich oder dauerhaft ihren Arbeitsplatz. Dagegen entstand an vielen Orten Protest. Der bekannteste war der von 700 Kalibergleuten im thüringischen Bischofferode, deren Grube »Thomas Müntzer« Ende 1993 geschlossen werden sollte. Im April 1993 besetzten sie bei laufender Produktion die Anlagen. Christian Rau, der zu den Protesten geforscht hat, erklärt, warum alternative Pläne für den Umbau der ostdeutschen Wirtschaft keine Chance hatten, die Besetzung aber dennoch nicht nur als Niederlage gedeutet werden sollte.

Vor 30 Jahren protestierten viele Belegschaften in Ostdeutschland gegen die Privatisierungspolitik der Treuhand. Warum wurde gerade der Ort Bischofferode in Thüringen zu einem Symbol?

Christian Rau: In den Jahren der Treuhand, zwischen 1990 und 1994, gab es mindestens einmal pro Woche einen Streik gegen die Abwicklungs- oder Privatisierungspläne – wie viele es genau waren, wissen wir nicht. Die meisten waren lokal und nur von kurzer Dauer. Das heißt auch, dass sie schnell wieder aus der Berichterstattung verschwanden. In Bischofferode war das anders. Hier brauchte es aber einen langen Atem: Die Kumpel streikten bereits seit Dezember 1992, in den Hungerstreik traten sie erst im Juli 1993. Die Treuhand war zu dieser Zeit ein Dauerthema der Skandalberichterstattung, da passte die Hartnäckigkeit der Kumpel gut hinein. Bischofferode wurde schließlich zum Symbol, weil die Medien über einen langen Zeitraum berichteten und dabei ikonische Bilder schufen.

Viele Menschen und Organisationen solidarisierten sich damals.

Die Solidarität für die Kumpel kam aus allen Ecken. Neben der PDS und außerparlamentarischen Aktivist*innen waren auch die katholische Kirche – in der Region Eichsfeld eine starke Kraft –, ehemalige Bürgerrechtler*innen, Gewerkschafter*innen und viele andere vor Ort. Auch die extrem rechte Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei mischte sich unter die Protestierenden, wurde aber recht schnell vom Werksgelände geworfen. Ansonsten waren die Kumpel offen für jede Unterstützung. Zugleich kam es immer dann zu Konflikten, wenn sich Aktivist*innen zu sehr in betriebliche Belange einmischten oder zu ideologisch auftraten. Als einmal West-Berliner Aktivist*innen Teilen des Betriebsrats »Verrat« vorwarfen, kam es zum öffentlichen Schlagabtausch. Der Betriebsrat reagierte mit einer Abgrenzung vom »Hobby-Terrorismus« der Aktivist*innen.

Porträt von Christian Rau
Foto: privat

Christian Rau

ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte München-Berlin und forscht insbesondere zur Geschichte der DDR und zur Transformationsgeschichte seit 1989. Zuletzt veröffentlichte er die Bücher »Hungern für Bischofferode« und »Die Verhandelte Wende«.

Wie sah die Solidarität bei anderen ostdeutschen Belegschaften aus?

In der ostdeutschen Bevölkerung gab es viele Solidaritätsbekundungen und vereinzelt auch Solidaritätsaktionen. In der Regel griff der Protest jedoch nicht auf andere Belegschaften über. In den Kalibetrieben, die durch die Kalifusion gerettet wurden, wirkte der Protest der Bischofferöder sogar unsolidarisch, weil sich die Kumpel gegen ein Konzept wandten, das anderen Betrieben das Überleben sicherte. In der Mitteldeutschen Kali-AG, der Nachfolgegesellschaft des Volkseigenen Kombinats Kali mit Gruben an mehreren Standorten, gab es generell kaum Solidarität unter den Belegschaften.

Woran lag das?

Solidarität bedeutete in der DDR etwas anderes. Man bildete Notgemeinschaften, um sich gegenseitig zu helfen und die Defizite der DDR zu kompensieren. An diese Erfahrung knüpften auch die Kumpel an. Die Notgemeinschaften reichten aber oft nicht über die unmittelbare Region hinaus – dort, wo man sich eben kannte. Was zum Beispiel die Belegschaft im Werra-Revier machte, interessierte in Bischofferode schon zu DDR-Zeiten nicht. Es gab also weder eine betriebliche Solidaritätskultur, auf die man hätte aufbauen können, noch eine Unternehmenskultur, der man sich zugehörig fühlte. Hinzu kam seit 1990 eben der Kampf ums Überleben, der in jedem einzelnen Betrieb geführt wurde.

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Für die Entstehung von Solidarität wären eigentlich Gewerkschaften wichtig. Wie gingen die damals mit den Protesten um?

Das Verhalten der Gewerkschaften lässt sich schwer auf einen Punkt bringen. Generell verhielten sich die Gewerkschaftsvorstände distanziert zum Hungerstreik und lehnten ihn als gewerkschaftliche Kampfform ab. Solidarität kam eher aus den unteren und mittleren Rängen, wobei die IG Metall hier besonders stark vertreten war.

Obwohl es aus der Bevölkerung viel Unterstützung gab und Bischofferode ein Symbol wurde, sprang der Protest-Funke nicht über. Warum nicht?

Selbst innerhalb der PDS gab es keine Einigkeit über die Bedeutung des Protests. Manche, wie Gregor Gysi, traten als Fürsprecher*innen des Mittelstandes im Kontrast zum »Monopolkapital« auf, andere verstanden sich als Vertreter*innen Ostdeutschlands, wieder andere zogen Verbindungslinien zwischen dem Hungerstreik und dem Welternährungsproblem. Der Protest war am Ende ein bunter Flickenteppich von Akteur*innen, die sich emotional verbunden fühlten, inhaltlich und in ihren konkreten Intentionen aber oft meilenweit auseinander lagen. Auch die Kumpel selbst spielten eine Rolle.

Inwiefern?

Die Kumpel haben ihren Protest immer vor allem als Kampf um den Arbeitsplatz und die Region verstanden. Nur ein Teil der Belegschaft und des Betriebsrats dachte später an eine größere Bewegung. Auch diese sollte aber eher eine Art Notgemeinschaft der von Arbeitsplatzverlust Betroffenen sein. Ob die Kumpel darüber hinaus übergreifende Ziele verfolgten, ist schwer zu sagen. Ich kenne jedenfalls keine Quelle, in der sie politische Forderungen jenseits ihres Betriebes formulierten. Einige linke Aktivist*innen waren bald enttäuscht, weil die Kumpel mit Sozialismus und Systemveränderung im Grunde nichts zu tun haben wollten.

Viele Menschen im Osten kennen die Proteste in Bischofferode nur als Geschichte des Niedergangs – was von rechts ausgenutzt wird.

Dennoch schienen die Kumpel stellvertretend für die vielen Ostdeutschen zu kämpfen, die nach der Wende in kürzester Zeit Arbeit und Anerkennung verloren. Welche Auswirkungen hatte das auf die Kultur der Region?

In Bischofferode zeigt sich, dass die Erinnerungskultur vor Ort leider nicht vor hohen Zustimmungswerten für die AfD schützt. Auch der ehemalige stellvertretende Betriebsratsvorsitzende Gerhard Jüttemann, der von 1994 bis 2002 für die PDS im Bundestag saß, hat vor Ort zwar eine gewisse moralische Stimme, ist gegen den allgemeinen Rechtstrend in Nordthüringen aber ebenso machtlos. Für die begrenzte kulturelle Wirkung der Proteste mag eine Rolle spielen, dass es den Protestierenden in erster Linie um ihren Betrieb ging, den sie als unpolitischen Raum verstanden – auch wenn extreme Rechte in den Arbeitskämpfen ausgegrenzt wurden.

Eine durchgehende Geschichte der Niederlage?

Nein! Bischofferode war auch mit positiven Demokratieerfahrungen verbunden. Gerade die Aushandlung des Sozialplans am Ende des Protests wurde von einigen Kumpeln als moralischer und materieller Erfolg erlebt. Hier hatte man sich durchgesetzt. Es ist wichtig, auf diese Erfolge hinzuweisen, denn viele Menschen im Osten kennen die Proteste nur als reine Niedergangsgeschichte – was von rechts ausgenutzt wird. Die Bischofferöder haben zwar den Kampf um ihren Betrieb verloren, aber gleichzeitig Ergebnisse erzielt, die andere Belegschaften nicht erreicht haben. Bischofferode zeigt damit, dass Arbeitskampf nicht sinnlos ist.

Wie erfolgreich ist die AfD damit, das Thema Treuhand zu vereinnahmen?

Im Wahlkampf nutzt die AfD das Thema als Symbol, um Wähler*innen zu mobilisieren. Dabei appelliert sie vor allem an antiwestliche Ressentiments. Ein größeres inhaltliches Interesse ist indes nicht zu beobachten, wie auch das Beispiel des aktuellen Treuhand-Untersuchungsausschusses im Thüringer Landtag zeigt, in dem sich die AfD inhaltlich nicht einbringt.

Stichwort Landtag: Bei den politischen Debatten kommt bis heute immer wieder die Frage auf, ob das Kaliwerk hätte überleben können. Der westfälische Unternehmer Johannes Peine wollte damals in Bischofferode investieren, was jedoch nicht zustande kam. Hätte das Projekt Erfolg haben können – und hätte es Alternativen gegeben?

Eine andere Alternative für Bischofferode jenseits von Peine lag nicht auf dem Tisch. An Selbstverwaltung dachten die Kumpel zu keinem Zeitpunkt, und das Land Thüringen hatte keine Mittel, um sich finanziell zu beteiligen. Dazu kam, dass Vergemeinschaftungsdebatten in den frühen 1990er Jahren ohnehin völlig gegen den allgemeinen Trend der Deregulierung liefen. Ob das Konzept von Peine am Ende getragen hätte, lässt sich überhaupt nicht sagen. Die Kaliwirtschaft war damals in einer akuten Krise, die Prognosen kaum möglich machte.

Was für einen wirtschaftlichen Zweck verfolgte dann die Kali-Fusion, also die von der Treuhand organisierte Überführung der ostdeutschen Gruben an die Kali und Salz AG mit Sitz in Kassel?

Ziel war es, den Wettbewerb maximal zu begrenzen, Kapazitäten abzubauen und eine Erholung der Branche zu ermöglichen. Bereits vor 1989 litt die Branche weltweit an Überkapazitäten und Preisverfall. Das Ende des Ost-West-Konflikts verschärfte die Situation, da nun auch die Staaten des zerfallenden »Ostblocks« Dumpingpreise anboten. Hinzu kam, dass der BASF-Konzern, zu dem Kali und Salz gehörte, alle Rohstoffaktivitäten loswerden wollte.

Von außen wirkte die Treuhandpolitik und ihre Unterstützung durch die Politik sehr konsistent und geplant. War das der Fall?

Überhaupt nicht. Es gab weder einen Plan zur Restrukturierung der ehemaligen DDR-Wirtschaft noch zu deren »Ausverkauf«, also die ostdeutsche Wirtschaft an den Westen zu verramschen. Konkret war das Handeln sehr von den einzelnen Direktoren abhängig, die bestimmte Strategien verfolgten und sehr von ihren westdeutschen Erfahrungen geprägt waren. Vieles lief informell und unter dem Radar der Öffentlichkeit ab, weil man befürchtete, unter politischem Druck an Handlungsmacht zu verlieren. Vielleicht hätte eine bessere parlamentarische Kontrolle einige Skandale verhindern können. Im Rückblick war die eigentliche Fehlentscheidung letztlich die viel zu früh greifende Währungsunion, die alle Betriebe im Osten praktisch handlungsunfähig machte.

Welche Chance hatten alternative Pläne für den Umbau der ostdeutschen Wirtschaft?

Es gab alternative Ideen, etwa von der IG Metall zur Reformierung der Treuhand in eine Industrie-Holding. Für solche Alternativen ließen sich aber keine parlamentarischen Mehrheiten organisieren. Auch die ostdeutschen Betriebsräte standen entsprechenden Vorschlägen oft skeptisch gegenüber. Die Gegner*innen der Treuhand waren am Ende zu schwach, um sich auf eine Alternative zu verständigen – und ließen sich zum Teil auch deshalb in die Treuhandpolitik einbinden.

Welche Lektionen aus den Protesten in Bischofferode sollten Aktivist*innen berücksichtigen, die aktuelle Transformationskonflikte wie in der Lausitz solidarisch begleiten wollen?

Es darf nie der Eindruck entstehen, dass die direkt von der Transformation Betroffenen die Deutungshoheit über ihren Kampf verlieren – darauf reagieren die Menschen gerade im Osten sehr allergisch.

Sebastian Bähr

ist Journalist. Bis Ende 2021 war er Redakteur der Tageszeitung neues deutschland.

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