Gute Gefühle, schlechte Gefühle
Durch den Fall Fabian Wolff kann man etwas über den zwiespältigen Fokus der deutschen Erinnerungspolitik erfahren
Von Larissa Schober
Viel ist schon über den Fall Fabian Wolff geschrieben worden, der angeblich jüdische Publizist, der gar nicht jüdisch ist, aber jahrelang sein Jüdischsein als Autoritätsargument benutzte. Ein Aspekt, der bisher wenig beachtet wurde, ist die Frage, was Fälle wie jener von Wolff eigentlich mit der deutschen Erinnerung an die Shoah zu tun haben.
Dass Deutsche sich jüdische Biografien erfinden, hat viele Gründe. Diese sind nicht nur in der individuellen Disposition zu suchen, vielmehr sind sie immer auch (und eigentlich zu allererst) politisch und sollten auch politisch verhandelt werden. Die Frage der Erinnerungspraxis ist ein Teil davon. Einer unter vielen Aspekten dieser Erinnerungskultur, der Fälle wie jenen von Wolff mit begünstigt, ist Geschichtsvermittlung durch Empathie.
Seit einigen Jahren ist es im museumspädagogischen Kontext populär, Vermittlung besonders über Einzelschicksale (in der Regel von Opfern der Shoah) zu betreiben – das hat gute Gründe und kann didaktisch sinnvoll sein. Der Fokus auf Einzelschicksale ist eine Möglichkeit, im Idealfall die Individualität der Opfer wiederherzustellen und dem unvorstellbaren, tausendfachen Tod ein »Gesicht« zu geben. Doch je mehr sich dieser Ansatz etabliert, desto mehr zeigen sich neue Fallstricke.
Die Frage, warum Fabian Wolff seine Biografie erfunden hat, ist weniger relevant als jene, warum diese dankbar angenommen wurde und was das über den deutschen Umgang mit der Shoah aussagt.
Mit dem Fokus auf die Opfer ist in Ausstellungen häufig ein emotionalerer Zugang verbunden. Dieser funktioniert meist über das Wecken von Empathie für die Betroffenen, die dann oft ein »Nachfühlen« der Opfergeschichten meint. Neben der Anmaßung, die hinter der Idee steht »nachzufühlen«, wie sich eine jüdische Person in den 1940er Jahren in Europa gefühlt hat, gehen mit dem Fokus auf Opfer und Empathie weitere Schwierigkeiten einher. Etwa: Sich nur auf Empathie für Opfer zu verlassen, kann zur Entpolitisierung von Gewalttaten führen. Man kann problemlos Empathie für Opfer empfinden, ohne sich mit den konkreten politischen oder ökonomischen Gründen für ihr Leid auseinanderzusetzen. Dadurch werden Gewalttaten auch austauschbar.
»Wir mögen Opfer«, formulierte die Historikerin Esther Benbassa dieses Problem. Wir erinnern uns lieber an erfahrenes Leid als an angetanes – denn mit letzterem geht die Frage nach der Verantwortung und nach Gegenstrategien einher. Der Historiker Stefan Mächler erklärt dazu in dem Band »Phantastische Gesellschaft: Gespräche über falsche und imaginierte Familiengeschichten zur NS-Verfolgung«: »Solange man sich auf die Opfer konzentriert, bleiben die Täter*innen das ganz Andere, das mich nichts angeht und das ich im mythologisch Unbegreiflichen und Dunklen belassen kann. Dabei besaßen die allermeisten Täter*innen keine pathologischen Eigenschaften. Sie waren vielmehr gewöhnliche Menschen wie wir, die zum Ungeheuerlichsten fähig wurden.«
Erinnern, ohne dass es wehtut
Durch diesen emphatischen Zugang wird außerdem eine Identifikation mit den Opfern begünstigt. Diese wiederum beinhaltet die Gefahr, den Blick auf die Täter*innen zu verstellen und damit auf die Gründe, warum welche Menschen überhaupt zu Opfern wurden. Die Identifikation mit den Opfern ist gerade in Tätergesellschaften ein Problem, da sie sich sehr gut zur moralischen Entlastung eignet und auch zur »Übernahme« von Erinnerung einladen kann: Durch Identifizierung mit Opfern können sich Betrachter*innen die moralische Überlegenheit, die der Opferstatus auch bedeutet, sozusagen »leihen«, ohne mit dem tatsächlichen Leid konfrontiert zu sein. Man identifiziert sich eben lieber mit der Widerstandskämpferin im Museum als mit dem eigenen Nazi-Opa.
Erfundene Opferbiografien sind die krassesten Ausprägungen dieses »Leihens«. Dieses auch als Wilkomirski-Syndrom bekannte Phänomen (benannt nach einer unter dem Pseudonym Binjamin Wilkomirski veröffentlichten erfundenen Autobiografie über eine jüdische Kindheit im NS) tritt häufiger auf, als man in dem Trubel um Fabian Wolff vermuten mag. Die Judaistin und Historikerin Barbara Steiner hat sich in ihrer Dissertation mit der Frage auseinandergesetzt, wieso so viele Deutsche nach 1945 zum Judentum konvertiert sind. Tatsächlich habe das Bedürfnis, sich als Jüdin oder Jude zu identifizieren, hierzulande eine gewisse Tradition, wenngleich die Motive sehr verschieden seien, sagte Steiner im Interview mit dem BR. Kurz nach Kriegsende seien es vor allem Täter*innen gewesen, die versucht hätten, sich in der Rolle von Jüdinnen und Juden aus der Verantwortung zu stehlen. Heute habe es wohl eher mit dem »Suchen nach Aufmerksamkeit« zu tun. Weitere bekannte Fälle der letzten Jahre sind die Bloggerin Marie Sophie Hingst und der ehemalige Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Pinneberg, Wolfgang Seibert.
Laut Steiner zeigten Fälle wie diese letztlich, dass es in Deutschland immer noch an der Aufarbeitung des Nationalsozialismus hapere, vor allem was die individuelle Familiengeschichte angeht. »Es ist viel leichter, sich als Jude neu zu erfinden als anzuerkennen, dass man Täter-Nachfahre ist.« Neben einer Aufmerksamkeits- hat die Fiktion einer jüdischen Biografie also auch eine Entlastungsfunktion. Der Journalist Daniel Ganzfried, der den Fall Wilkomirski in den 1990ern aufdeckte, fasst das Ganze so zusammen: »Mitleidssüchtige Anteilnahme« an einem Einzelschicksal enthebt Menschen der Aufgabe, sich an der Analyse des Unverstehbaren abzuarbeiten. Diese Aufgabe nehmen einem die Opfer sozusagen ab, und man kann, überspitzt gesagt, gedankenlos mitleiden.
Auch Fabian Wolff hat oft aus einer Position der moralischen Überlegenheit argumentiert, für einige wurde er zu einer Art jüdischem Kronzeugen für Israelkritik. Die Frage, warum er seine Biografie erfunden hat, ist dabei weniger relevant als jene, warum diese dankbar angenommen wurde und was das über den deutschen Umgang mit der Shoah aussagt. Deutsches Wohlfühl-Erinnern ist nicht erst dann ein Problem, wenn Biografien erfunden werden. Überidentifikation und Entpolitisierung beginnen früher. Dagegen könnte man auch in der Vermittlung etwas tun. Denn ein Erinnern, das nicht wehtut, verfehlt seinen Zweck.