Glückwunsch, alte Schildkröte!
Der express interveniert seit 60 Jahren in linke und betriebliche Debatten
Von Christoph Wälz
Wie kann eine Organisierung in den Betrieben gelingen, die unmittelbare Interessen der Lohnabhängigen durchsetzt und dabei auf eine Veränderung von Gewerkschaften und Gesellschaft abzielt? Wen diese Frage umtreibt, der kommt seit Jahrzehnten nicht am express vorbei. 1962 erschien die Zeitung erstmals als express international. Sie verfolgte damals das Ziel, die westdeutsche Linke mit internationalen sozialistischen Debatten vertraut zu machen und so deren Provinzialität zu überwinden. Gelesen wurde sie vor allem von kritischen Mitgliedern der Gewerkschaften und der damals noch in der Arbeiter*innenbewegung verankerten SPD.
1972 fusionierte die Zeitung mit der Sozialistischen Betriebskorrespondenz. Diese wurde seit 1969 von dem Sozialistischen Büro herausgegeben, das die Aktivitäten von in den Betrieben aktiven Linken koordinierte. Seitdem erscheint die Zeitung unverändert unter dem Namen express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, allen Unkenrufen über einen vermeintlich nicht mehr zeitgemäßen Untertitel zum Trotz. 1979 resümierte der express-Autor Eberhard Schmidt, die Erfahrung habe gezeigt, »dass es möglich ist, eine überregionale Betriebs- und Gewerkschaftszeitschrift herauszugeben, die nicht an die Leitungsgremien einer Partei oder Gruppierung gebunden ist und deren Direktiven, unabhängig vom realen Stand der Klassenauseinandersetzungen, zu befolgen hat (…). Die auf Selbstorganisation zielende und an den Interessen der unmittelbar Beteiligten ansetzende Politik des Sozialistischen Büros (…) hat verhindert, dass die Redaktion des express in Abhängigkeit von Organisationsinteressen geraten ist, die die Funktion dieser Zeitung zerstört hätte: Vermittlung von Erfahrungen, Analyse gewerkschafts- und betriebspolitischer Tendenzen, Information über wichtige Vorgänge im nationalen wie im internationalen Bereich und Beiträge zu wirksamer Solidarität.« Seine Kritik an der sozialpartnerschaftlichen Ausrichtung der Gewerkschaftsführungen und der »Berufsbetriebsräte« und die Schaffung einer alternativen »Arbeiteröffentlichkeit« brachten dem express viel Gegenwind ein, bis hin zu Gewerkschaftsausschlüssen.
Die Schildkröte steht symbolisch für die mühevolle Detailarbeit ohne Abkürzung.
Hat dieses Format noch eine Zukunft? In seinen »Überlegungen zur Rolle des express 2022« erläutert Torsten Bewernitz empirische Belege für neu entstehende Gruppen betrieblicher Aktivist*innen. Besonders in der Pflege, der Wissenschaft und in Lieferdiensten gebe es interessante Entwicklungen, denen aber oftmals der überbetriebliche Zusammenhang und eine gemeinsame Diskussionsplattform fehle. Das, was in den 1970er Jahren die Betriebsintervention einer Generation von Linken ausgemacht habe, werde heute unter ganz anderen Vorzeichen mit betrieblichem Organizing wieder aufgegriffen. Der express verbindet Erfahrungen mehrerer Generationen. Ältere schöpfen aus den Erkenntnissen der Betriebsintervention. Begannen viele diese mit der Erwartung einer baldigen Arbeiter*innenrevolution, steht im Rückblick die Schildkröte, die jede Titelseite schmückt, symbolisch für die mühevolle Detailarbeit ohne Abkürzung. Aus den letzten 20 Jahren kommen Erfahrungen mit dem Verfall gewerkschaftlicher Organisationsmacht und der Suche nach Neuansätzen wie einer beteiligungs- und konfliktorientierten Erneuerung der DGB-Gewerkschaften, einer Adaption US-amerikanischer Erfahrungen oder einer basisgewerkschaftlichen Praxis. Unter den Bedingungen der Prekarität laufen heute neue Versuche, sich zu wehren, oftmals ohne auf Vorläufern aufzubauen. Viele Autor*innen stehen biografisch sowohl im proletarischen als auch im akademischen Leben. Ihr Interesse zielt auf die wissenschaftliche Analyse der Arbeitswelt wie auch deren praktische Veränderung.
Trotz eines Männerüberhangs verfolgt der express eine feministische Agenda mit Debatten um Care-Arbeit, Frauen*streiks oder die Rolle von Frauen im Organizing. Die Blicke auf die Arbeitsbedingungen von Migrant*innen in Landwirtschaft und Fleischindustrie oder auf die Anforderungen an eine klimagerechte Transformation sind informiert und nah an den Betroffenen. Neuere Schwerpunkte folgen somit den Debatten um eine »neue Klassenpolitik«. Das altehrwürdige Blatt erweist sich als quicklebendig. Auf dass wir zum 120sten kein Medium der sozialen Emanzipation mehr brauchen werden!