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Warum ging sie nicht?

»Gewalt im Haus« ist ein Essay über häusliche Gewalt und öffentliche Schuldumkehr

Von Jacinta Nandi

Die Autorin an ein Fenster gelehnt, blickt in die Kamera, das Foto ist schwarz-weiß
Hat ein brutales Buch geschrieben, in dem aber auch Hoffnung steckt: Autorin Barbara Peveling. Foto: privat

Die Frage »Warum ging sie nicht?« ist genauso interessant, wie sie grausam ist. Denn die Frage ist eigentlich keine Frage, sondern ein Vorwurf, eine Lüge – und vor allem ein Paradox. Die Frage kann nur Frauen gestellt werden, die gegangen sind, die gerade gehen. Eine Frau, die brav zu Hause bleibt, die bei der Gewalt im Haus bleibt und schweigt: Sie kriegt diesen Vorwurf nicht zu hören, ihr wird diese Frage nie gestellt. Die Frage ist eine Lüge. Niemand möchte wissen, wie die Antwort lautet. Niemand möchte wissen, warum du nicht gegangen bist, warum sie nicht ging. Niemand will das wissen. Die Frage ist ein Paradox, denn sie existiert, um Frauen zum Schweigen und zum Bleiben zu bringen. Oder vielleicht besser gesagt: zu zwingen.

Warum ging sie nicht, warum gingst du nicht, warum gingen wir nicht? Barbara Peveling versucht eine Frage zu beantworten, die nicht beantwortet werden soll. In »Gewalt im Haus: Intime Formen der Dominanz«, ein erschütternder Essayband inklusive Triggerwarnung, die das Buch dringend braucht, versucht sie tatsächlich zu beantworten, warum sie selbst nicht ging und damit der häuslichen Gewalt entkam.

Mit Beispielen aus der Pop-Kultur oder der Promiwelt – wie Johnny Depp und Amber Heard – oder aus den lokalen sowie nationalen und sogar internationalen Nachrichten versucht sie diese Frage zu beantworten. Sie erzählt uns von dem Familienvater aus Frankreich, der 2011 seine Ehefrau und vier Kinder tötete und im Garten vergrub. Xavier Dupont de Ligonnés‘ Familie ist nicht gegangen, weil sie tot im Garten unter der Erde liegt. Peveling erzählt uns von ihrer Freundin Hanna, die zuerst von der Polizei unterstützt worden ist, nur um dann von ihrer Anwältin hören zu müssen, dass ihre Tochter mehr Respekt gegenüber ihrem Papa haben sollte. Hanna verlor ihren Antrag auf Kontaktverbot vor dem Gericht. Popkultur, Anekdoten aus dem eigenen Leben und das ihrer Freundinnen – aber am erschütterndsten und am anstrengendsten sind wahrscheinlich die soziologischen und historischen Erklärungen, die wissenschaftlichen Studien, die Peveling benutzt, um zu erklären zu versuchen, warum sie nicht ging.

Niemand fragt die Männer

Ein anderer Fall, dem sich Peveling widmet und der oft als Promiklatsch abgestempelt wird, ist Heard vs. Depp. Die öffentliche Meinung war sich ziemlich einig von dem Tag an, an dem Heard eine einstweilige Verfügung gegen Depp beantragte, bis zu dem Tag, an dem er in den USA gegen sie vor Gericht gewann. Er hatte sie verklagt, weil sie die häusliche Gewalt in einem Zeitungsartikel öffentlich gemacht hatte. Die Öffentlichkeit befand: Amber war kein echtes Opfer. Das wurde mit der Frage verbunden: »Warum ging sie nicht früher?« Aber da die Ehe von Heard und Depp wirklich eine Hollywoodehe war (15 Monate), muss man hier sehen, dass diese Frage eigentlich nur benutzt wird, um Frauen und Opfer zu bestrafen und zu isolieren.

Es gibt keine Antwort auf diese Frage, weil die Gesellschaft sie eigentlich nicht beantwortet haben will.

Interessant, dass man sich – oder dem Opfer – diese Frage stellt, statt sie dem Täter zu stellen: Warum hat sich Johnny Depp nicht entschieden, Amber Heard nicht zu vergewaltigen und zu schlagen? Depp, ein sehr reicher Mann, der in zwölf Fällen von körperlicher und sexueller Gewalt gegen seine Ex-Frau für schuldig befunden wurde: Niemand stellt ihm Fragen. Sogar diejenigen, die ab und zu immer noch versuchen, uns zu überzeugen, dass er ein männliches Opfer von häuslicher Gewalt gewesen ist, weil Amber Heard sich gegen seine Übergriffe gewehrt hat. Warum, wenn Amber Heard ihn angeblich so sehr missbraucht hat, ist er nicht gegangen? Er hatte nicht nur 29 andere Wohnsitze, in denen er hätte bleiben könnte, inklusive einer privaten Insel, sondern er wohnte nicht wirklich mit Heard zusammen: Statt zu »gehen«, hätte er einfach aufhören können zu kommen! Er hätte einfach aufhören können, betrunken bei ihr aufzutauchen. Sogar wenn man denkt, dass schwarz weiß ist, die Sonne der Mond und Amber Heard die Täterin, sogar in dieser Fantasiewelt, die nichts mit dieser tatsächlichen Welt zu tun hat, in der wir jetzt leben, dann hätte sie gar nicht die einstweilige Verfügung gegen ihn gebraucht. Warum ging er nicht? Man kann diese Frage Männern nicht stellen, denn Männer besitzen die Welt, denn Männer besitzen die Häuser. Männer müssen nicht gehen.

Ich habe beim Lesen des Buches von Peveling oft gedacht: Ja, dieses Buch braucht die Triggerwarnung, die es bekommen hat. Ich habe oft aufgehört zu lesen, war oft beim Lesen getriggert, oft einfach müde, erschöpft. Was diese Rezension von mir nicht braucht, ist die kleine Schwester der Triggerwarnung: den Spoiler Alert. Denn die Wahrheit ist, dass dieser Versuch, die Frage zu beantworten, uns nur zeigt, dass es keine Antwort gibt. »Warum ging ich nicht? Die Antwort drauf steht in jeder Zeile dieses Textes,« schreibt Peveling. Es gibt keine Antwort auf diese Frage, weil die Gesellschaft sie eigentlich nicht beantwortet haben will. Das Buch zeigt uns, wie viel komplizierter die Antwort ist als die Frage. Und Peveling versucht wirklich, an die Antwort zu kommen.

Platzanweiser

Barbara Peveling ist in einem Haus, in dem es Gewalt gab, groß geworden. Als ihr Vater sich umbringt, erlebt die Tochter Scham. Eine Scham, die sich als Erwachsene in Trotz wandelte: »Der langen Zeit zum Trotz, die ich bereits unter der Gewalt im Haus litt, gab ich doch die Hoffnung nicht auf, dass sie verschwinden würde, ohne dass die letzte, die endgültige Grenze gezogen werden müsste. Die Kinder, so hoffte ich, sollten nicht bei getrennt lebenende Eltern aufwachsen. Ihnen sollte nicht ein Elternteil entrissen werden, so wie bei mir. Das Trauma meiner Kindheit erwachte in den Nächten meiner Gegenwart.«

Das Buch ist klug, aber die Sache ist: Gewalt macht Opfer klein. Und das ist der Grund, weshalb sie existiert, um die Opfer klein zu halten, dumm zu machen, zum Schweigen zu bringen.

»Einmal hatte ich nach dem Schwamm gegriffen, als er gerade die Küche aufräumte: Während ich die Kinder ins Bett brachte, half er mir, dabei hatte er schon den ganzen Tag im Büro geschuftet, und ich war doch nur zu Hause gewesen. Diese Geste brachte das Fass zum Überlaufen, aber nicht das Greifen an sich war falsch gewesen, sondern das Dazwischengehen provozierend. Wenn er in unserer Partnerschaft schon im Haushalt ›helfen‹ sollte, dann wenigstens das, wenigstens nicht dazwischengehen, nicht nochmal nachwischen wollen, schnell was wegmachen, als wollte ich es besser machen, als wüsste ich es besser als er. Eine gute Frau sollte ihrem Mann nicht das Gefühl geben, dass sie etwas besser kann als er. Sie sollte ihm nicht vermitteln, dass er Fehler macht. Eine Frau sollte an ihrem Platz bleiben, sonst gibt’s was, wenigstens Geschrei.«

Das Buch ist traurig, aber es ist auch irgendwie schön. Es ist so brutal wie das Patriarchat. Es ist eine Antwort, aber es ist nicht die Antwort. Und es ist, komischerweise, wie ein Löwenzahn auf dem Gehweg, ein Buch voller Hoffnung.

Jacinta Nandi

ist Autorin und lebt in Berlin, außerhalb des S-Bahn-Rings. Ihr letztes Buch heißt »50 Ways to Leave Your Ehemann« – ein Manifest, das alle Frauen in Deutschland ermutigen soll, ihre faulen Ehemänner zu verlassen (mehr oder weniger).


Barbara Peveling: Gewalt im Haus. Intime Formen der Dominanz. Edition Nautilus, Hamburg 2024. 320 Seiten, 22 EUR.