Der ewige Schlachtruf
Aufgeblättert: »Der Berliner Antisemitismusstreit« neu herausgegeben von Nicolas Berg
Von Jens Renner
Der Berliner Antisemitismusstreit von 1879/80 hat Folgen bis heute. In einer neu kommentierten Dokumentation des Jüdischen Verlags wird das überzeugend dargestellt. Der Urheber des Streits war Heinrich von Treitschke (1834-1896), Historiker und Publizist. In den Preußischen Jahrbüchern warnte er im November 1879 vor der Einwanderung von Jüd*innen »über unsere Ostgrenze«. Dagegen erhebe sich eine »wunderbare, mächtige Erregung … in den Tiefen unseres Volkslebens« und insbesondere in der geistigen Elite: »Bis in die Kreise der höchsten Bildung hinauf … ertönt es heute wie aus einem Munde: die Juden sind unser Unglück!« Das angebliche Zitat wurde zum Schlachtruf der gesamten antisemitischen Bewegung. Jüdische Intellektuelle protestierten umgehend. Erst spät meldete sich der erste nichtjüdische Kritiker zu Wort: der Althistoriker Theodor Mommsen (1817-1903), bis heute Treitschkes bekanntester Kontrahent. Eine umfangreiche Dokumentation des Streits erschien 1965, zusammengestellt von Walter Boehlich. Nun hat Nicolas Berg eine erweiterte Ausgabe dieses wichtigen Werks herausgegeben und neu kommentiert. »Von der Gewalt der Sprache« ist der letzte Abschnitt seiner Einführung überschrieben: »Viele der antisemitisch geprägten Formulierungen und Codewörter des 20. Jahrhunderts waren von Treitschke geprägt worden«, schreibt er dort. So entstand eine nationale Ideologie unvereinbarer Gegensätze »von ›wir‹ und ›sie‹, von erwünschter deutscher Einheit und störender jüdischer Minderheit«.
Der Berliner Antisemitismusstreit. Eine Textsammlung von Walter Boehlich. Neu herausgegeben von Nicolas Berg. Jüdischer Verlag, Berlin 2023. 543 Seiten, 28 EUR.