»Von Sozialismus reden wir nicht mal mehr«
Unbedingt sehenswert, ob man Eribons Buch mag oder nicht: der Film »Rückkehr nach Reims (Fragmente)«
Von Nelli Tügel
Nach dem Hype jetzt auch noch die Verfilmung? Ich mochte Didier Eribons Buch »Rückkehr nach Reims« außerordentlich gern. Doch die Debatte, die es in Deutschland entfesselte, drehte sich schnell im Kreis. Die Ankündigung eines gleichnamigen Films machte mich entsprechend skeptisch. Zu Unrecht: »Rückkehr nach Reims (Fragmente)« ist gar keine Buchverfilmung und kann vielmehr als völlig eigenes, von Eribon höchstens angeregtes Werk gelten. Um den Autoren, den Klassenflüchtling Eribon, der unter der Schwulenfeindlichkeit seines Herkunftsmilieus leidet, in der feinen Pariser Gesellschaft wiederum diese Herkunft aus Scham verschleiert und dann »zurückkehrt« (natürlich nicht wirklich), geht es kaum. Die persönliche Geschichte Eribons verschwindet hinter einem kollektivbiografischen Mosaik aus Filmszenen und Dokumentarfilmsequenzen der 1940er bis 1980er Jahre – was sich als gute Entscheidung von Regisseur und Drehbuchautor Jean-Gabriel Périot erweist.
In dem von ihm angeordneten filmischen Archivmaterial kommen größtenteils Arbeiter*innen selbst zu Wort. Sie dialogisieren gewissermaßen mit Eribon, indem zwischen den Szenen Sätze aus seinem Buch vorgelesen werden. In der deutschen Fassung von der Schauspielerin Nina Hoss.
Die persönliche Geschichte Eribons verschwindet hinter einem kollektivbiografischen Mosaik aus Filmszenen und Dokumentarfilmsequenzen der 1940er bis 1980er Jahre.
Der Aufbau ist dabei klar und dreistufig. Die erste Hälfte des Films widmet sich der Lage der französischen Arbeiter*innenklasse: Arbeit, Hausarbeit, Wohnsituation, Sexismus, Körper, Träume von der Zukunft. Arbeiter*innenleben von Arbeiter*innen erzählt, großartig!
Der zweite Teil des Films dreht sich um Klassenbewusstsein, die Rolle der Kommunistischen Partei, der PCF, um Rassismus, die Spaltung der Klasse und die (temporäre) Überwindung dieser Spaltung im Klassenkampf, den Wahlsieg François Mitterrands 1981 und die letztlich desaströsen Folgen unerfüllter Hoffnungen (siehe auch ak 674) – den Aufstieg des Front National. »Die fehlende Mobilisierung als solidarische Gruppe«, schreibt Eribon, liest Nina Hoss und zeigt der Film, »führt dazu, dass rassistische Kategorien die sozialen ersetzen. Dann rekonstituiert die Gruppe sich anhand eines anderen, diesmal nationalen Prinzips.«
Eine Arbeiterin sagt in einem der aus den Archiven geborgenen Interviews zu dem sie Befragenden: »Wir glauben nicht mehr ans Glück, nur noch an kleine Momente. Über Sozialismus reden wir nicht mal mehr«, lacht und schiebt hinterher: »Und ich soll dir sagen, was Sozialismus ist? Wir wissen nicht mal mehr, was wir erhoffen.« Eribons Textvorlage gibt diesem zweiten Teil des Films einen festen Rahmen von Einordnung und politischer Analyse – allerdings auch eine zwingende Stringenz, die das Buch in der Form nicht hergibt.
In einem kurzen dritten Teil bezieht der Film das Gezeigte auf die Gegenwart. Er endet mit den Gilets Jaunes (die zum Zeitpunkt, da das Buch erschien, noch gar nicht existierten) – und einem Auftrag an die Linke. Die im Frühjahr anstehenden französischen Präsidentschaftswahlen vor Augen, bei denen sich die Faschistin Marine Le Pen Chancen ausrechnen kann, Staatschefin Frankreichs zu werden, wirkt er umso drängender. Egal ob man Eribon gelesen hat oder nicht, ihn mochte oder nicht: Dieser Film ist ganz groß.
»Rückkehr nach Reims (Fragmente)« kann in der Mediathek von Arte gestreamt werden.