Wie man vom Leben erzählt
In ihrem Film »Herzsprung« von 1992 beschrieb die Regisseurin Helke Misselwitz den Nährboden für antifeministische und autoritäre Einstellungen
Von Nane Pleger

Tja, Frau Perleberg, wir müssen uns alle umstellen. Alles Gute für Sie, auch in Ihrem persönlichen Leben!« Mit diesen Worten wird Johanna Perleberg, die Protagonistin des Spielfilms »Herzsprung« der ostdeutschen Regisseurin Helke Misselwitz, in die Zeit der Umbrüche, in die 1990er Jahre entlassen – und zwar ohne Job. Sie ist eine junge Mutter von zwei Kindern und lebt mit ihrem Mann zusammen bei ihrem Vater in dem titelgebenden kleinen brandenburgischen Dorf »Herzsprung«. Der Film wurde 1991 gedreht, ein Jahr später veröffentlicht und 1994 im ZDF ausgestrahlt.
2024, 35 Jahre nach dem »Mauerfall«, ist der Film ein historisches Dokument, das einlädt, über diese Zeit zu sprechen. Spuren der 1990er Jahre lassen sich heute in Hass, Frust und gesellschaftlicher Verdrossenheit finden. Die Leipziger Autoritarismus-Studien haben unlängst wieder eindrücklich gezeigt, wie groß die Unzufriedenheit und wie hoch die Zustimmung zu rechten, autoritären Einstellungen sind – in Ost wie West. Aber es sei auffallend, wie sich gerade antifeministische, sexistische und transfeindliche Einstellungen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR auf hohem Niveau befänden. Wer den Film »Herzsprung« sieht, vollzieht nach, auf welchem Nährboden diese Einstellungen über die letzten 30 Jahre wachsen und gedeihen konnten.
Der Film erzählt davon, wie die Protagonistin Johanna ihren Job verliert und wenig später auch noch ihren Mann, einen Rinderzüchter, der nach 15 Minuten Spieldauer erst seine Kühe und dann sich selbst umbringt. Alkohol und Perspektivlosigkeit scheinen ihn in eine tödliche Verzweiflung gebracht zu haben. Der Film erzählt zudem davon, wie sich ehemalige Mitschüler von Johanna radikalisieren und wie aus Frust, Arbeitslosigkeit und Männlichkeit gefährliche Gewalt wird, die sich gegen Frauen, »Ausländer« und Holocaust-Mahnmale richtet. Thema des Films ist aber auch der Drang nach Auf- und Ausbruch. Die Aufnahmen des tristen Dorfes Herzsprung werden immer wieder von wilden Tanzszenen auf Partys durchbrochen, bei denen schwitzende, lachende Menschen eine feiernde Masse bilden. »Herzsprung« ist ein Film, der zeigt, wie Leid, Liebe und Lust das Leben in den 1990er Jahren in Ost-Deutschland bestimmten.
Helke Misselwitz ist eine Regisseurin, die genau hinsieht. Sie wurde im Juli 1947 bei Zwickau geboren, in der ehemaligen sowjetischen Besatzungszone, die 1949 zur DDR wurde. Misselwitz wollte unbedingt Filme drehen, musste allerdings, bis sie das tun konnte, ein paar Umwege gehen. So absolvierte sie zwei Ausbildungen zur Tischlerin und zur Physiotherapeutin und arbeitete danach im Bereich Jugendpublizistik als Regieassistentin und Regisseurin, bis sie mit 31 Jahren schließlich in Potsdam-Babelsberg Regie an der Hochschule für Film und Fernsehen studieren konnte. Nach drei Jahren beendete sie ihr Studium mit einem Regie-Diplom und entschied sich für die Unsicherheit und das Ungewöhnliche: Sie wollte als Freischaffende arbeiten, sie wollte sich weder den stilistischen noch inhaltlichen Vorgaben des DDR-Regimes fügen müssen.
Freischaffend und unkonventionell
Sie hatte schon während ihrer Lehrjahre in ihren Filmen in einer Weise von einer Zeit erzählt, wie es in der DDR weder Konvention noch Praxis war. Sie ging mit ihnen in die jüngste Vergangenheit, ins nationalsozialistische Deutschland, und wollte vom Alltag, von den zwischenmenschlichen Beziehung berichten und nicht den Topos des heroischen antifaschistischen Widerstands weiterführen. Als Beispiele seien die Filme »Ein Leben« von 1980 oder »Die fidele Bäckerin« von 1982 genannt.
Nach ihrem Studium widmete sie sich einem anderen Thema: dem der Frauen. In einem Interview begründete sie das mit den Worten: »Wenn die gesellschaftlichen Verhältnisse so gestaltet sind, dass das gesamte Eigentum dem Volk gehört und es keine Reichen und Armen mehr gibt, dann sind alle vor dem Gesetz (…) gleich. Was vergessen wurde, war, dass zweitausend Jahre Patriarchat das Verhalten der Menschen geprägt hatten.«
In ihrem Dokumentarfilm »Winter adé« lässt sie Frauen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Profession von den Spuren des Patriarchats erzählen, die sich in ihrem Alltag wiederfanden. Es ist ein Film, der auch von den sozialen Problemen der DDR erzählt, von den Ungerechtigkeiten, die es in der »klassenlosen« Gesellschaft gab. Der Film erschien im Herbst 1988 und machte sie schlagartig berühmt – in der DDR, in der BRD und sogar in den USA. Dort hielt sie sich übrigens auf, um ihren Film zu promoten, als vor 35 Jahren in Deutschland die Mauer fiel.
Die Regisseurin hat sich in die »Transformationszeit« aktiv eingebracht, um die filmische Kunst der DDR vor dem Vergessen zu retten.
Misselwitz‘ Karrierestart als international beachtete Filmemacherin fiel also genau in die Zeit des Umbruchs und des Zusammenbruchs ihres Heimatlandes. Sie hat erlebt, wie die Treuhand am 19. Mai 1992 bekannt gab, dass die Deutsche Film-Aktiengesellschaft, die DEFA, verkauft werden sollte. Auch wenn Misselwitz lieber freischaffend arbeiten wollte, so war die DEFA doch ihre Produktionsfirma. Sie war an den Bemühungen, das Erbe von allein 170.000 Kurz- und Langfilmen zu sichern, maßgeblich beteiligt. 1990/91 wurde sie stellvertretende Vorsitzende des Film- und Fernsehverbandes Berlin. Die Regisseurin hat sich in die »Transformationszeit« aktiv eingebracht, um die filmische Kunst der DDR vor dem Vergessen zu retten. Im Dezember 1998 wurde die DEFA-Stiftung gegründet (ein Stiftungsgründungs-Versuch der letzten DDR-Regierung 1990 war grandios gescheitert). Dieser ist es zu verdanken, dass die Filme der jungen Helke Misselwitz noch erhalten und vor allem auch zugänglich sind.
So konnte »Herzsprung« in diesem Jahr auf der Berlinale in der Retrospektive gezeigt werden und auch in einem kleinen brandenburgischen Verein im November, um zur Diskussion über die »Transformationszeit« einzuladen. Misselwitz ist übrigens nach Babelsberg zurückgekehrt, wo aus den ehemaligen DEFA-Studios die heute berühmten Filmstudios Babelsberg entstanden sind: Sie ist seit 1997 Professorin für Regie an der Filmuniversität Babelsberg »Konrad Wolf«. Nachdem sie im neuen System spüren musste, dass man vom Filmemachen allein nicht leben kann, nahm sie auch deshalb den Ruf an die Hochschule an und lehrt dort als Regisseurin der letzten DEFA-Generation, »wie man vom Leben erzählt«, wie sie das Filmemachen gerne beschreibt.
So hat sie nach »Herzsprung« noch acht weitere Dokumentarfilme gedreht. Aber auch ihr Spielfilm »Engelchen« von 1996 ist wie sein Vorgänger von 1992 ein historisches Zeitdokument, das trotz seiner Fiktionalität eine Perspektive auf die Realität der Transformation wirft und dabei Existenzen in den Fokus nimmt, die im dominanten Diskurs bis heute übersehen werden.