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|ak 710 | Alltag

Falsche Versprechen

Dass die Institution Familie noch immer als das Sinnbild für bedingungslose Liebe gilt, muss problematisiert werden – eine Übersicht feministischer Kritiken

Von Sarah

Geschenke unter einem dekorierten Weihnachtsbaum
Nicht für alle steht die Weihnachtszeit für Geborgenheit, Liebe und Quality Time im Kreise der Familie. Foto: Alan Cleaver / Flickr, CC BY 2.0

Weihnachten steht vor der Tür und wie zu keiner anderen Zeit haben Kitsch, Christentümelei und Familienromantik ihre Hochzeit. In einer selbstverständlichen Glückseligkeit strahlen uns Mutter-Vater-Kind in Wollpullovern von den Werbetafeln dieses Landes entgegen. Dass die Kulturindustrie die Familie, natürlich in ihrer normativsten Ausführung, als das gesellschaftlich anerkannte Symbol für Fürsorge hochhalten kann, ist ein Problem.

Aber warum eigentlich? Steht sie nicht für Geborgenheit und Solidarität? Ist es nicht die Familie, die da ist, wenn alle Stricke reißen? Verbindet uns nicht doch ein bisschen mehr mit dem Bruder als mit anderen Menschen? Vorweg: Diese Kritik an der Familie richtet sich nicht gegen die Befriedigung dieser überlebenswichtigen Bedürfnisse, die für die Bewältigung der jetzigen sowie Aufbau einer emanzipatorischen Gesellschaft notwendig sind. Punktuell erfüllen manche Familien diese Bedürfnisse sogar. Eine reiche Tradition an Familienabolitionist*innen argumentiert jedoch, dass die Familie als hegemoniale Institution sehr schlecht darin ist, Solidarität und Schutz gerecht und befriedigend zu organisieren – sie macht uns schlichtweg falsche Versprechen.

Fürsorgearbeit für das Kapital

Ja, die Familie kann ein Rückzugsort von einem stressigen Alltag sein. Was die Familienromantik auslässt: weil das Kapital sie dazu macht. Wie uns die marxistisch-feministischen Denker*innen der 1970er Jahre lehrten, wurde die moderne Kleinfamilie mit ihrer »Erholungsfunktion« als Gegenspielerin zur entlohnten Produktionssphäre im Sinne der Kapitalakkumulation erschaffen. Die Schmerzen der Buckelei über Fabrikbänder, Krankenhausbetten und heutzutage Lieferando-Roller müssen irgendwo weggestreichelt werden. Sonst – so weiß auch die herrschende Klasse – sterben uns die Leute weg. Die emotional-sexuelle Wartung der männlich kodierten Lohnarbeiter und das Erziehen der künftigen Arbeiter*innen haben dabei vor allem die zu Frauen gemachten Menschen zu verrichten. Die fehlende Entlohnung der reproduktiven Schufterei wird mit »großzügigem, weiblichen Charakter« legitimiert.

Lediglich eine gewisse Fraktion der familiären Fürsorgearbeiter*innen kann sich bei zu hoher Erschöpfung oder Karrierebedürfnissen reproduktive Arbeitskraft zukaufen. Fürsorgearbeiter*innen, die in der globalen rassifizierten Klassenordnung weiter unten stehen, füllen die Reproduktionslücken der jeweils privilegierteren Haushalte. Die Fantasie der intakten Kleinfamilieneinheit mit der allzeitbereitstehenden Hausfrau in ihrem Zentrum ist somit eine bürgerlich-weiße Unsichtbarmachung der rassifizierten, proletarischen Fürsorgeinfrastruktur innerhalb, wie um die Familie herum, so abolitionistische Marxistin Angela Davis. Dass wir all die Haushaltshilfen, Leihmütter und Nannies nur selten in Familienporträts finden, hat mit klassistischen Rassismen zu tun, aber auch mit dem Konzept von Verwandtschaft als Kernideal der Familie. Verwandtschaft impliziert, so Sophie Lewis, dass Menschen qua Genetik automatisch für immer zueinander gehörten. Weil Blut vermeintlich dicker als Wasser ist, wird (Bluts-)Verwandtschaft quer durch alle gesellschaftlichen Sphären privilegiert (siehe Erbrecht).

Privileg schafft auch Pflichten: Füreinander da zu sein, »komme was wolle«. Das kann in einer individualistischen Gesellschaft tatsächlich solidarische Momente kreieren, wie dem Onkel auf dem Krankenbett beizustehen, obwohl man sich nie gut verstanden hat. Dem Onkel um des Onkels-Sein-Willens beizustehen, scheint aber eine wacklige Grundlage für Solidarität. So hielt schon Anfang des 20. Jahrhunderts Alexandra Kollontai die russische Arbeiter*innenklasse an, sich von der separatistischen Pärchenromantik und exklusiven Liebe zum »eigenen« Kind zu befreien, die sie von der Bourgeoisie aufgedrückt bekommt. Die Familie steht nicht nur der Liebe zum Kollektiv im Weg. Sie zwingt uns alle in Beziehungen, die wir uns nie aussuchen konnten. Im Neoliberalismus verschärft sich die Erpressungstaktik: Eben weil Fürsorge (kostenlose) Privatsache, ergo Familienangelegenheit ist, werden öffentliche (leistbare) Fürsorgestrukturen systematisch zurückgebaut, so verstehe ich feministische Soziologin Melinda Cooper. Wenn alle Stricke reißen, bleibt wirklich nur noch der verhasste Onkel über.

Dünnes Blut

Die sich verschärfende Alternativlosigkeit der Familie ist besonders gewaltvoll gegenüber jenen, welche in ihrer Familie wenig Liebe finden. Gründe für plötzlich-dünnes Blut: Antipathie, Inkompatibilität, diverse Ismen. Es waren bekanntlich selten die Omas oder Cousins, die die Betroffenen der AIDS-Krise in den 1980er Jahre gepflegt und in ihren Kämpfen unterstützt haben. Es ist gewaltvoll gegenüber jenen, denen Familie als die privilegierte Reproduktionsorganisation verweigert wird. Die Institution Familie sanktioniert alle Beziehungsweisen, die nicht im eugenischen Interesse des weißen, patriarchalen und bürgerlichen Nationalstaates sind. Beispielsweise wird queeren, proletarischen sowie rassifizierten Personen und Personen mit Behinderungen systematisch »Elterntauglichkeit« abgesprochen.

Mit einem »Diversifizieren« der weißen, bürgerlichen, patriarchalen Familie ist es nicht getan.

Gegen diese Ungleichverteilung reproduktiver Rechte muss kollektiv angegangen werden. Gleichzeitig: Jenen Personengruppen und ihren Beziehungsweisen die Aufnahme in die Institution anzubieten, die ihnen Verwandtschaft historisch wie derzeit systematisch zu verweigern versucht, empfindet black feminist scholar Hortense Spillers als unverschämt. Mit einem »Diversifizieren« der weißen, bürgerlichen, patriarchalen Familie ist es nicht getan. Je mehr sich die Familie ändert, desto mehr bleibt sie das Gleiche: weniger Fürsorgegarantie, eher Fürsorgemonopol. Sie trennt, als dass sie vereint. Sie erpresst, als dass sie sich solidarisch zeigt.

»Hier bin ich sicher; hier kann ich sein, wie ich möchte«, ist ein weiteres Versprechen der Familie. Die Aufteilung in ein sicheres »Innen« (Familie) und ein unsicheres »Außen« (Gesellschaft) enthält eine nicht zu vernachlässigende Wahrheit. Beispielsweise kann die Existenz Schwarzer, migrantischer und indigener Familiennetzwerke eine kollektive Identität unter genozidalen Bedingungen ermöglichen, Freiräume für anti-koloniale Organisierung schaffen sowie Schutz vor rassistischer Dominanzgesellschaft und staatlicher Exekutive sichern. Gleichzeitig können für viele Menschen die eigenen vier Wände ebenso lebensgefährlich sein. So warnt eine altbekannte feministische Kritik: Ein relevanter Teil der sexualisierten, physischen und psychischen Gewalt findet unter Abwesenheit sozialer Kontrolle in der Privatsphäre statt.

Dem gebrochenen Schutzversprechen der Familie könnte zu Grunde liegen, dass die systemische Funktion der Familie in der Sicherung bestehender Herrschaftsverhältnisse liegt. Die Familie verteidigt letzten Endes die zentrale Institution des Kapitals: das Privateigentum. Verwandtschaft sichert dank Erbe nicht nur die Eigentumsverhältnisse interfamiliär, sondern ebenso intrafamiliär. »Du bist mein Fleisch und Blut« impliziert Eigentumsansprüche gegenüber Familienmitgliedern, denen vor allem Kinder ausgeliefert sind. Erziehungspersonen machen sich nicht selten mitschuldig, »ihre« Schutzbefohlenen zu herrschaftsförmigen, konkurrenzfähigen, autoritätshörigen Subjekten zu formen.

Das genoss*innenschaftliche Versprechen

Familien können tatsächlich Momente der Fürsorge, gegenseitiger Solidarität und Selbstverteidigung produzieren. Die emanzipatorischsten, familiären Momente anzuerkennen und nach den Alternativen dieser Institution zu suchen, ist eine Gleichzeitigkeit, die wir aushalten müssen: »Obwohl ich die Familie kritisiere und mich dafür einsetze, ihre Grenzen zu überwinden – oder sie sogar abzuschaffen –, freue ich mich über die kreativen Wege, die Schwarze Nachkommen ehemals versklavter Gemeinschaften weiterhin beschreiten, um Beziehungen neu zu erfinden und zu konzipieren. Diesem Schwarzen Bestreben werde ich immer verpflichtet sein« schrieb Tiffany Lethabo King. Ob jene Momente aufgrund oder eher trotz der Institution Familie überleben, werden wir herausfinden müssen. Bis dahin: Anstatt weiterhin an den falschen Versprechen der Familie festzuhalten, müssen wir anfangen, die besseren Versprechen zu machen. Alexandra Kollontais »Rote Liebe«, die Liebe unter Genoss*innen, könnte ein solches Versprechen sein. Genoss*innenschaft gegen die Familie würde nicht bedeuten, (verwandte) Menschen gewaltsam voneinander zu trennen. Ausgeweitete Genoss*innenschaft auf alle Menschen – inklusive der Verwandtschaft – würde bedeuten, sich gegenseitig die Freiheit zuzugestehen, sich für und gegen fürsorgliche Beziehungen, und damit auch Fürsorgearbeit, entscheiden zu können.

Genoss*innenschaft bedeutet Verbindlichkeit, was vor allem für Kinder überlebensnotwendig ist. Hierfür braucht es eine ernsthafte Auseinandersetzung, was es für Menschen heißt, derzeit noch auf ihre Familien zurückgreifen zu müssen: sei es zum Schutz vor der rassistischen Gesellschaft oder weil sie keine andere Möglichkeit sehen. Wie können wir die Bedingungen erstreiten, die Schutz voreinander nicht länger notwendig machen? Wie können wir Alternativen kreieren, die der punktuellen Alternativlosigkeit der Verwandtschaft etwas entgegensetzen können?

Genoss*innenschaft bedeutet, den Schulterschluss mit den Revolutionär*innen zu suchen, welche tagtäglich das Mutter-Vater-Kind-Diktat von außen wie von innen attackieren; weil sie es müssen und nie danach gefragt haben. Mit dem Widerstand indigener Communities, denen die Familie im Zuge der Kolonisierung gewaltvoll aufgezwungen wurde. Mit all den proletarischen Müttern vieler Geschlechter, die Fürsorge zu queeren und zu entprivatisieren versuchen. Mit all jenen, die inklusive Solidarität jenseits des Verwandtschaftsgrades praktizieren, das Private als Politikum verstehen, die Kinder in ihrer Autonomie ernstnehmen.

Die Alternativen zur Institution Familie sind – und waren schon immer – überall. Sie steck(t)en in den After-School-Programmen der Black Panther Bewegung, community-basierten Kinderbetreuungsangeboten der Schwulen- und Lesbenbewegung, Polycules, KüFas oder Hausprojekten. Wir haben den Auftrag, diese Reproduktionskommunismen (wieder-)zuentdecken. Damit Genoss*innenschaft der lamettabehangenen Verwandtschaftspropaganda wirklich gefährlich werden kann. Damit selbst die überlebenswichtigsten Funktionen der Familie überflüssig werden.

Sarah

wohnt als überzeugte Bewegungslinke in Wien. Sie interessiert sich besonders für Feminismen und Klimapolitik.

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