Einblicke in eine sozialdemokratische Ehe vor 100 Jahren
Aufgeblättert: »Der Deiwel soll die ganze Politik holen« von Johanna und Richard Tesch
Von Renate Hürtgen
Das Buch gibt Einblicke in den Alltag einer sozialdemokratischen Ehe vor 100 Jahren. 1899 nach der Geburt ihres dritten Sohnes begann Johanna Tesch, sich im Ortsverein in Frankfurt/Main politisch zu engagieren. U.a. wurde sie Mitbegründerin des »Bildungsvereins für Frauen und Mädchen der Arbeiterklasse« und später des »Vereins für weibliche Hausangestellte«. Eine Funktionärskarriere ohne Parteibuch, denn Frauen konnten in Preußen erst ab 1908 Mitglied einer Partei oder Gewerkschaft werden. Mit der Einführung des Frauenwahlrechts 1919 wurde Johanna als eine der wenigen Frauen in die Nationalversammlung gewählt, von 1920 bis 1924 war sie Abgeordnete des Reichstags. Richard Tesch besorgte unterdessen, neben seiner Arbeit in der SPD-eigenen Union-Druckerei, den Haushalt, den Garten, versorgte seine Frau mit der nötigen Wäsche und organisierte das Familienleben. Und weil Johanna in diesen Jahren entweder in Weimar, Berlin oder auf Wahlkampftour im Land unterwegs war, schrieben sich die Eheleute Hunderte von Briefen. Johanna war eine Parteisoldatin der Mehrheitssozialdemokratie, der USPD stand sie fern. Nach dem 20. Juli 1944 wurde sie inhaftiert, 1945 verstarb sie im KZ Ravensbrück. Der Versuch der Herausgeber*innen, die Rolle der SPD in den Jahren 1919 bis 1925 einzuordnen, lässt manchmal an historischer und politischer Klarheit vermissen. Sehr lesenswert ein Beitrag von Jutta Roitsch über die Situation der ersten Sozialdemokratinnen im Parlament.
Johanna und Richard Tesch: Der Deiwel soll die ganze Politik holen. Ein Briefwechsel aus Deutschlands erster parlamentarischen Demokratie 1919-1925. Henrich Editionen 2021, Frankfurt am Main. 273 Seiten, 18 EUR.