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Am grünen Tisch

Ein neuer Sammelband sucht den Klassenkonflikt im Ukrainekrieg, bleibt aber in der Geopolitik verhaftet

Von Maximilian Hauer

Zwei gepanzerte Militärfahrzeuge hintereinander auf einer Straße, von vorne fotografiert, rechts vorne im Bild ein Soldat mit Waffe
Reale Klassenkämpfe im postsowjetischen Raum spielen in dem Buch keine Rolle: russische Truppen während der Zerschlagung der Revolte in Kasachstan 2022. Foto: Mil.ru / Wikimedia Commons , CC BY 4.0

Zweieinhalb Jahre nach Beginn der russischen Vollinvasion in der Ukraine ist der Sammelband »Sterben und sterben lassen. Der Ukrainekrieg als Klassenkonflikt« erschienen. Der Name des Herausgeberkollektivs »AK Beau Séjour« spielt auf die gleichnamige Pension im schweizerischen Dorf Zimmerwald an. Hier beratschlagten sozialdemokratische Kriegsgegner*innen verschiedener europäischer Länder 1915 konspirativ über Auswege aus dem imperialistischen Weltkrieg.

Die Einleitung offenbart das polemische Anliegen des Buches. Leidenschaftlich wird dort der »linke Bellizismus« verurteilt, der sich nicht nur unter Linksliberalen, sondern auch unter Anarchist*innen und Sozialist*innen nach dem russischen Angriff breitgemacht habe. Die »neuen Kriegstrommler« setzten sich für die Landesverteidigung der Ukraine, deren materielle Unterstützung durch den Westen oder gar für die Hochrüstung der Nato-Staaten selbst ein. In ihrer Verbrüderung mit der »eigenen« Bourgeoise gegen den äußeren Feind Russland würden sie die zentrale Einsicht Karl Liebknechts preisgeben, dass der Hauptfeind immer im eigenen Land stehe.

Die 16 Beiträge des Bandes gliedern sich in drei Sektionen. Die erste, »Hinter den Frontlinien«, versammelt fünf lesenswerte Interviews mit Vertreter*innen verschiedener linker Gruppen aus Russland und der Ukraine, wobei das politische Spektrum von linkskommunistischen und anarchosyndikalistischen bis hin zu marxistisch-leninistischen und souveränistischen Stimmen reicht. Einblicke in gesellschaftliche Stimmungslagen gesellen sich zu allgemeinen politischen Einschätzungen und Schilderungen einer antimilitaristischen Praxis im Ausnahmezustand.


Wie sich dieses Primat der Außenpolitik zu den Klassenverhältnissen verhält, wird im Sammelband nicht klar.

Bei allen Unterschieden eint diese Gespräche, dass sie die Stoßrichtung des Herausgeberkreises bestätigen, indem sie die Vorstellung zurückweisen, es handle sich bei der Ukraine um »das kleinere Übel«, das vor der Expansion des russischen Autoritarismus gerettet werden müsse. Desertion und Flucht bilden folglich den Horizont des Handelns, denn: »Wir haben hier nichts zu verteidigen, außer die Macht der Obrigkeit und das Eigentum der Unternehmen« (Assembly Charkiw). Der unbedingte Wunsch, linksliberale Illusionen zu entzaubern, lässt bisweilen Putins Russland als geringeres Übel erscheinen. Insgesamt überwiegt jedoch eine äquidistante Haltung.

Die zweite Sektion – »Wessen Krieg?« – ist innerlinken Debatten gewidmet, die dritte – »Weltkrieg und Weltmarkt« – bettet die Ereignisse in größere ökonomische und politische Zusammenhänge ein. Anders als vermutet, geht es hier nur am Rande um den »Ukrainekrieg als Klassenkonflikt«. Dafür wäre eine vielschichtige Untersuchung der beiden hauptsächlich kriegführenden Gesellschaften – Russland und die Ukraine –, ihrer Geschichte und ihres Verhältnisses zueinander notwendig gewesen. Doch nur ein instruktives Interview mit Felix Jaitner weist in diese Richtung.

Vielleicht liegt der Grund für das weitgehende Desinteresse an konkreten Untersuchungen der postsowjetischen Klassengesellschaften darin, dass mit der »Geopolitik« ein alternativer Ansatz verfolgt wird, der die Geschehnisse hinreichend zu erklären scheint. Geopolitik ist Geschichte von oben: Die Geschicke der Welt hängen von wenigen Großmächten ab und hier wiederum von wenigen Entscheidungsträger*innen in Politik, Militär und Wirtschaft. Zwischen diesen herrscht ein ewiger Kampf um Macht und Territorien: ein Nullsummenspiel. Autonome Handlungsmacht subalterner politischer Kräfte ist in dieser Weltsicht nicht vorgesehen und wird folglich auf das manipulative Ränkespiel konkurrierender Großmächte zurückgeführt. Wie sich dieses Primat der Außenpolitik zu den Klassenverhältnissen verhält, wird im Sammelband nicht klar.

Die implizite Ethik der »Geopolitik« läuft auf einen Freifahrtschein für die herrschenden Mächte hinaus. Wer sich der Unterordnung verweigert, »provoziert« gewaltsame Antworten, wie Klaus Dallmer in seinem Beitrag ausführt. Die herrschenden Mächte werden so aus der Verantwortung genommen. Hier wird deutlich, dass Geopolitik nicht einfach ein neutrales Werkzeug darstellt, das nützliche Erkenntnisse über die Wirklichkeit produziert. Vielmehr transportiert dieser Ansatz häufig eine hierarchische, konservative und letztlich nihilistische Weltanschauung, die den marxistischen Grundgedanken der universellen Gleichheit, der Aufhebung von Herrschaftsverhältnissen und der kollektiven Selbstbefreiung zuwider läuft.

Das bedeutet nicht, dass es irrelevant wäre, die fraglos schäbigen Interessen und Pläne der Herrschenden zu kennen. Doch Emanzipation ist nur möglich, wenn der Zirkel der Geopolitik durch ein politisches Subjekt durchbrochen werden kann, das eine neue ökonomische und politische Ordnung stiftet. Wenn überhaupt, so wird dieses Subjekt nur aus den wirklichen Auseinandersetzungen vor Ort hervorgehen. Da ist es verblüffend, dass auch die politische Geschichte der Klassenkämpfe und sozialen Bewegungen im postsowjetischen Raum im Band kaum eine Rolle spielt.

Dabei gab es in der Region in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe – ideologisch und organisatorisch zumeist diffuser – Massenproteste: vom ukrainischen Maidan über die Streik- und Protestbewegung in Belarus 2020/21 bis hin zum Aufstand in Kasachstan, wo wirtschaftliche und politische Unzufriedenheit noch im Januar 2022 Massen auf die Straße trieb. Eine russisch angeführte Militärintervention schlug diese Proteste nieder und tötete dabei 238 Personen. Diese Ereignisfolge gibt einen Hinweis darauf, wie fruchtbar eine tatsächliche Analyse der russischen Außenpolitik im Zusammenhang mit realen oder befürchteten »Klassenkonflikten« im postsowjetischen Raum sein könnte.

Maximilian Hauer

lebt als freier Autor und Übersetzer in Leipzig. Gemeinsam mit Katja Wagner und Maria Neuhauss hat er soeben das Buch »Klima und Kapitalismus. Plädoyer für einen ökologischen Sozialismus« im Schmetterling Verlag veröffentlicht.


AK Beau Séjour: Sterben und sterben lassen. Der Ukrainekrieg als Klassenkonflikt. Die Buchmacherei, Berlin 2024. 236 Seiten, 15 EUR.