Feiern zum Nulltarif
Ein Lob des Cornerns in Zeiten der Pandemie
Von Johannes Tesfai
Wenn ein soziales Phänomen von einer ganzen Mannschaft an Protest- und Zukunftsforscher*innen ausgelotet wird, kann es nur langweilig oder politisch bedenklich werden. So ist es dem Cornern ergangen. Doch was ist das eigentlich? Meist junge Leute treffen sich in lauen Sommernächten zum Draußen-Trinken, auf eisigen Bordsteinkanten wird mit warmem Bier gelungert, frei nach dem Motto: kalter Hintern, aber gute Laune. Als während des G20-Gipfels in Hamburg zum Massencornern aufgerufen wurde, ließen die Reportagen in Zeit, taz und Welt nicht lange auf sich warten. Sie lasen sich zwar wie Kneipengespräche aus der Fernsehserie Lindenstraße, aber zumindest in Springers Welt durfte der Zukunftsforscher Ulrich Reinhardt feststellen, dass Cornern »draußen statt drinnen, günstig statt teuer, selbst gewählte Musik statt vorgegebene« bedeutet. Nach so viel Erkenntnis wissen wir zwar immer noch nicht, warum das Thema eine Meldung wert war, aber naja.
Zumindest der Gipfel in Hamburg ließ das An-der-Ecke-Trinken kurzzeitig politisch werden. Wir erinnern uns, Innensenator Andy Grote und Bürgermeister Olaf Scholz hatten im Sommer 2017 die Hamburger Innenstadt zum Gebiet für polizeiliche Großübungen erklärt und jede Menschenansammlung als zu polizierendes Problem definiert. In jenem Sommer wurde damit jedes vor der Tür getrunkene Bier zu einem rebellischen Akt. Danach wurde es aber endgültig in das Hamburger Stadtmarketing integriert. Im Internet finden sich unzählige »Tipps«, welche Straßenecke in der Hansestadt denn besonders angesagt ist.
Zur Eskalation kam es dabei auffällig oft in Städten, deren Ausgehkultur mehr als anderswo vom Geldbeutel seiner Bewohner*innen abhängt.
Aber seit dem Frühjahr 2020 waren hippe Ausgehtipps irgendwie nicht mehr so in, das mag vielleicht daran liegen, dass Pandemie ist – aber das Cornern kam wieder. Kalter Hintern, aber gute Laune ist nämlich keine Wiederkehr des öffentlichen Hipsters oder ausgefeilte Proteststrategie, sondern politische Notwendigkeit in den überteuerten Gentrifizierungsstadtteilen dieser Republik. Corona hat dem Ganzen noch mehr Drive gegeben. Während viele Maßnahmen gegen das Virus nicht an die Logik von Krankheitserregern gebunden waren (alle zusammen in der Fabrik, alle allein zu Hause) und abendliche Großstädte nur aus Blaulicht und Uniformen bestanden, hieß Infektionsschutz meistens nur Ausgangssperre, aber nicht: kostenlose und funktionierende FFP2-Masken.
Gelegentlich wollten sich einige Jugendliche nicht den Spaß an der Party verderben lassen, pfiffen auf die Uhrzeiten und überließen der Polizei nicht den öffentlichen Raum. Zur Eskalation kam es dabei auffällig oft in Städten, deren Ausgehkultur mehr als anderswo vom Geldbeutel seiner Bewohner*innen abhängt. Im notorisch teuren Frankfurt etwa oder im spießigen Stuttgart. Beides Städte übrigens, mit einer Einwohner*innenschaft, die kosmopolitischer und migrantischer ist als der Schützenverein in Hannover-Langenhagen. Nicht zuletzt das weckte auch Begehrlichkeiten bei der örtlichen Polizei, den öffentlichen Raum wieder unter Kontrolle zu bringen (oft auch durch Racial Profiling).
Jetzt wird wieder über Unvernunft in den Ausgehvierteln geredet, so auch in Hamburg. Das Cornern werde zum Sicherheitsrisiko. Gleichzeitig darf die Tagesschau vermelden, dass die Elbphilharmonie wieder offen ist. Nachdem nun monatelang über Aerosole berichtet wurde, zeigt die Nachrichtensendungen die freundlichen Abteilungsleitertypen und Bildungsbürger*innen wie sie in ihrer wohlhabenden Parallelwelt ganze Säle mit ihrem Atem füllen, während einige hundert Meter weiter die Elbe rauf die Polizei jeden öffentlichen Park von Jugendlichen räumt.
Die Rückkehr zur Normalität wird eine umkämpfte sein. Denn durch die geschlossene Gastronomie ist Freizeitgestaltung eine sehr öffentliche Veranstaltung geworden. Das Monopol auf Spaß haben jetzt nicht mehr nervige Barkeeper*innen und grimmige Türsteher*innen. Das Draußen-Feiern, das Cornern, ist nicht nur ärmer an Aerosolen, sondern auch reicher an Selbstbestimmung. Kein sechs Euro Drink, keine Sperrstunde limitieren den Abend.