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Die Steinmeier-Show

Auf dem Birlikte-Festival demonstrierten Politiker*innen 20 Jahre nach dem NSU-Anschlag in Köln erneut, dass sie nichts verstanden haben

Von Çağan Varol

Weil ein Spürhund angeschlagen hatte und Politiker*innen anwesend waren, wurde ein Teil der Keuptstraße einige Stunden gesperrt. Foto: Çaǧan Varol

Das Festival Birlikte, türkisch für »Zusammen«, erhielt am 20. Jahrestag des Nagelbombenanschlags des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) auf die Kölner Keupstraße eine Neuauflage. Die Bombe vom 9. Juni 2004 führte damals zu 22 teils Schwerverletzten, im Nachgang wurde die gesamte Straße von der Polizei observiert; und einige der Überlebenden wurden bis zum psychologischen Zusammenbruch verhört. Über Jahre wurde der gesamte Raum im Einklang mit der polizeilichen Ermittlungspraxis medial als Hotspot einer ausländischen organisierten Kriminalität dargestellt. Nach der Selbstenttarnung der Nazibande Ende 2011 folgten viele Untersuchungsausschüsse, die kaum Aufklärung brachten. Vor allem fehlten Konsequenzen gegen das Staatspersonal.

Bildungsbürgerlicher Elitismus

Der kriminalisierende Diskurs hat jedoch Ewigkeitsgarantie, wie die Aussagen des SPD-Gesundheitsministers Karl Lauterbach bei der Fernsehshow Lanz im Februar bezeugen. Es handle sich »um einen der größten Drogenumschlagsplätze Deutschlands«, sagte dieser über die Keupstraße und ihr Umfeld. Er wisse, wovon er rede, er kenne die Ermittler*innen und das Viertel, das in seinem Wahlbezirk liegt. Es gab tatsächlich Widerspruch vonseiten der Polizei, und vermutlich deshalb erfolgte eine halbgare Rücknahme. Die Situation habe sich mittlerweile verbessert, so Lauterbachs lapidare »Richtigstellung«. Zu Birlikte 2024 ließ es sich der Minister nicht nehmen, auf der Keupstraße aufzutauchen und im Tross mit Journalist*innen, einer Ladenbesitzerin und viel Sicherheitspersonal für ein Foto zu posieren.

Die Schamlosigkeit, mit der manche Akteure solche Anlässe für ihre Sache ausnutzen, ist die eine Seite. Die andere Seite ist die Marketinglogik hinter diesen Festen. Von 2014 bis 2016 fanden bereits drei solcher Festivals statt. Es kamen 70.000 Besucher*innen, Udo Lindenberg und Peter Maffay, es wurden große Reden über Vielfalt und Integration geschwungen und zu Schlagern geschunkelt. Einige Ladenbesitzer*innen wurden zu symbolischen Zwecken inkludiert, während die wahren Betroffenen zumeist unsichtbar blieben und nicht mal in den VIP-Bereich durften, um sich auszuruhen. Der damalige Bundespräsident Gauck, der das Fest beehrte, gab dem betroffenen Friseur Özcan Y., der jahrelang kriminalisiert wurde, beim Besuch des Ladens implizit die Aufgabe mit, bis zum nächsten Fest richtig Deutsch zu lernen. Er würde wiederkommen, aber ohne Dolmetscher. Es klang wie eine Drohung.

2014 wäre das Fest erfolgreich zu Ende gemanaged worden, wenn nicht der Jahrhundertsturm »Ella« gerechterweise einen vorzeitigen Abbruch erzwungen hätte. Das vorletzte Fest 2016 stand wie das jetzige im Schatten der massiven Rechtsverschiebung. Das Schauspielhaus Köln lud einen Gründer der AfD auf eine Podiumsdiskussion im Rahmen des Festivals ein. Migrantischen und antirassistischen Teilen der Gesellschaft war es zu verdanken, dass diese Verharmlosung der Rechten durch eine Bühnenbesetzung scheiterte. Damals, einige Monate nach der »Kölner Silvesternacht«, sollte wohl die AfD in den bürgerlichen Diskurs eingebunden werden. Die Bühnenbesetzung wurde später vom damaligen Intendanten, Stefan Bachmann, und Dramaturgen des Schauspielhauses, Thomas Laue, als »Meinungsdiktatur« und »Tabubruch« gegeißelt. Tatsächlich sichtbar wurde aber ein gefährlicher, bildungsbürgerlicher Elitismus.

Von Dönerspieß bis AfD

Für das diesjährige Fest kam Bundespräsident Steinmeier, der bereits beim Staatsbesuch in der Türkei 2024 mit seiner schrägen »Dönerdiplomatie« glänzte. Er brachte einen 60 Kilogramm schweren Dönerspieß aus Berlin nach Istanbul und verlieh damit gängigen kulturalistischen Klischees den Status eines Staatsakts. Den Begriff »Dönermorde« oder NSU erwähnte er nicht. Über Kriminalisierung und rassistische Moralpaniken, die sich massiv im Rahmen der NSU-Ermittlungen Bahn brachen, wurde nicht geredet.

Am 20. Jahrestag des Nagelbombenanschlags und gleichzeitig am Tag der Europawahl stand das »Kulturfest« im Sinne des Hufeisenschemas gegen das »Erstarken extremistischer Kräfte«. Die Verantwortlichen gaben vor, gelernt zu haben. Betroffene, Gewerbetreibende und antirassistische Initiativen wurden im Vorfeld zu Veranstaltungen eingeladen und in die Festivalpolitik inkludiert. Einige Betroffene äußerten Kritik, wie damals mit ihnen umgegangen wurde. Über die Einladung der AfD 2016 verlor man aufseiten der Organisator*innen kein Wort. Auch die Presse fragte nicht nach.

Für die Betroffenen wurde 2024 zwar ein Ruheraum arrangiert. Doch einige Personen blieben im »Raum für Alle« während des Festes auf skandalöse Weise fast drei Stunden eingesperrt, da ein Spürhund wegen Klebstoff anschlug und ein Teil der Keupstraße polizeilich gesperrt wurde. Schlimmer noch, gingen die Reden vieler Betroffener unter, da die Politiker*innen das Konzept einfach umwarfen und direkt nach ihren Sonntagsreden wieder verschwanden. Arif S., der schräg gegenüber vom Anschlagsort die Nagelbombe überlebte, war sichtbar wütend: »Steinmeier und die anderen haben ihre Show durchgezogen und sind gegangen, ohne dass wir ihnen sagen konnten, was wir denken. Ich und andere Betroffene haben ihr Kommen nie gewollt.« Von alldem haben andere Besucher*innen von Birlikte, die auf der großen Bühne 200 Meter weiter zu Karnevalsrock schunkelten, nichts mitbekommen.

Sie sind 20 Jahre lang gekommen, haben sich entschuldigt, haben viele Versprechungen gemacht

Özcan Y.

Auf dem Fest wurde auch der geplante virtuelle Erinnerungsort vorgestellt. Es ist bisher nur eine Utopie, die seit 2014 auf ihre Realisierung wartet und erst nach Protesten aus der Zivilgesellschaft und gegen den Willen der Stadtverwaltung aus der Versenkung hervorgeholt wurde. Die Gefahr besteht, dass sie harmonisch in das Neubauareal einer Immobilienfirma eingefügt wird, das unter dem Slogan »Wohnen, Arbeiten, Gedenken« bereits vermarktet wird. Das Bild des zukünftigen Areals hing direkt an der Bühne und zeigte auf, wie Aufwertung, Gentrifizierung und Festivalisierung zusammenhängen. Das Mahnmal ist zudem genauso prekär ausgestattet wie viele Bewohner*innen des Keupviertels. Für einen Tag Birlikte wurden dagegen 200.000 Euro organisiert.

Der Friseur Özcan Y. fasste alles adäquat zusammen: »Sie sind 20 Jahre lang gekommen, haben sich entschuldigt, haben viele Versprechungen gemacht. Sonst ist nichts passiert, und ich habe geschwiegen.«

Fadenscheinige Inszenierung

Dass das diesjährige Fest wieder eine fadenscheinige Inszenierung werden würde, konnte bereits auf der Birlikte-Pressekonferenz vom 22. Mai beobachtet werden. Die parteilose Oberbürgermeisterin Henriette Reker reagierte mit Unverständnis darauf, dass eine Überlebende, Ayşe O. (1), unter Tränen über städtische und mediale Ignoranz klagte. Dies könne an dem fehlenden Mahnmal liegen, meinte Reker, wälzte die Schuld aber empathielos auf die Betroffenen und die Initiativen ab. Diese hätten unbedingt auf einem Privatgelände bestanden und müssten die Wartezeit in Kauf nehmen.

Ein Medienvertreter fühlte sich berufen, die Stadt Köln gegen den Überlebenden Muhammet A. in Schutz zu nehmen. Köln habe viele Birlikte-Festivals organisiert und  alle Medien berichtet. Tatsächlich wollten Ayşe O. und Muhammet A., der den Nagelbombenanschlag ebenfalls durchleben musste, darauf hinweisen, dass sich vor und nach diesen Festivals kaum jemand für sie verantwortlich fühlt. Nach dem Anschlag wurden sie mit ihren Traumata über Jahre alleingelassen.

Im festivalisierten, neoliberalen Politikmodus werden kritische Interventionen als unangebrachte Störungen im Ablauf behandelt. Die wahren Machtverhältnisse bleiben unangetastet, während der Anwesenheit der Steinmeiers und Lauterbachs mehr Wert beigemessen wird als den Worten der Opfer.

Der staatliche Rassismus, die Gewalt der Bombe wie auch des medialen Diskurses sind in der Realität zur Nebensache geworden. Doppelmoral und Scheinheiligkeit sind an ihre Stelle getreten. Die auf Birlikte ebenfalls anwesende Überlebende des rechten Bombenanschlags von 1992 in Köln-Ehrenfeld, Fatma C., wies in ihrer Rede darauf hin: »Wir haben alle heute erlebt, wie Politiker*innen geschützt werden. Wir hätten uns gefreut, wenn sie uns damals auch so beschützt hätten.«

Çağan Varol

promoviert im Bereich Stadtpolitik und -soziologie und beschäftigt sich dabei mit der Problematisierung von Migration am Beispiel der Kölner Keupstraße. Er versteht sich als kritischer Rassismusforscher.

Anmerkung:

1) Name von der Redaktion geändert.