Die schrecklich nette Familie
Von Moritz Assall
Manche Dinge sind ambivalent, zum Beispiel die gesellschaftliche Institution Familie. Friedrich Engels sah in der modernen Familienform nichts weniger als die »weltgeschichtliche Niederlage des weiblichen Geschlechts« durch seine Unterjochung »als Proklamation eines bisher in der ganzen Vorgeschichte unbekannten Widerstreits der Geschlechter«. Grundlage dafür war, mal wieder, die geschichtliche Entwicklung des Privateigentums, damit einhergehend der Lohnarbeit und die Scheidung von Öffentlichem und Privatem; wobei der Mann den öffentlichen Raum bespielte, die physische, finanzielle und nicht zuletzt rechtliche Vorherrschaft innehatte, während die Frau auf Haushalt und Kinder festgelegt war, allenfalls versehen mit Haushalts- oder Taschengeld. Insofern war die Forderung im Kommunistischen Manifest nur konsequent: Abschaffung der Familie!
Tatsächlich dürfte wenig so geeignet sein, dieser Forderung Vorschub zu leisten, wie familienrechtliche Verfahren vor Gericht. Ein bekannter Klassiker des Grauens ist das Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) von 1966. Verklagt war die Ehefrau, der Vorwurf ist im Urteil wie folgt ausgeführt: »Sie habe ihm erklärt, sie empfinde nichts beim Geschlechtsverkehr und sei imstande, dabei Zeitung zu lesen; er möge sich selber befriedigen. Der eheliche Verkehr sei eine reine Schweinerei. Sie gebe ihm lieber Geld fürs Bordell.« Das konnte der 4. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs, bestehend aus fünf Männern, natürlich nicht hinnehmen. Sie urteilten, die Ehefrau genüge »ihren ehelichen Pflichten nicht schon damit, dass sie die Beiwohnung teilnahmslos geschehen lässt«. Und weiter: »Wenn es ihr infolge ihrer Veranlagung oder aus anderen Gründen, zu denen die Unwissenheit der Eheleute gehören kann, versagt bleibt, im ehelichen Verkehr Befriedigung zu finden, so fordert die Ehe von ihr doch eine Gewährung in ehelicher Zuneigung und Opferbereitschaft und verbietet es, Gleichgültigkeit oder Widerwillen zur Schau zu tragen.« Der BGH als ideeller Gesamtpatriarch im Ehebett gewissermaßen.
Familie, so Horkheimer, könne auch der Ort sein, an dem »Beziehungen nicht durch den Markt vermittelt sind, (…) sich die Einzelnen nicht als Konkurrenten gegenüberstehen«, sondern »die Entfaltung und das Glück des Andern« gewollt werden.
In ganz anderer Sache urteilte das Oberlandesgericht (OLG) Braunschweig vor nicht allzu langer Zeit, im Jahr 2021. Geklagt hatten Großeltern väterlicherseits, die ihre Enkel regelmäßiger sehen wollten. Klingt wie ein harmloser Wunsch, dahinter verbarg aber innerfamiliär klassistische Abscheu, die ihren Ursprung in Herkunft und Biografie der Schwiegertochter hatte. Die Kläger*innen erklärten dem Gericht, sie als Akademiker*innenpaar »lebten in guten sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen, sodass der Umgang für die Kinder auch ausgesprochen förderlich sei.« Außerdem seien sie »empathisch veranlagt, weshalb sie sich in die Belange der Kinder, auch in emotionaler Hinsicht, hineinversetzen könnten.« Hinsichtlich ihrer Schwiegertochter, die sie in laut Gericht »offener Feindseligkeit« bei jeder sich bietenden Gelegenheit verächtlich machten, fiel ihnen das aber durchaus schwer, wie im Urteil zu lesen ist: »Die Wohnverhältnisse (…), die Ostvergangenheit, der Dialekt, der restriktive Sprachcode, die zahlreichen Tattoos und die extreme Bildungsferne waren äußerst schambesetzt.« Letztlich, erklärten sie dem Gericht, wollten sie doch nur verhindern, dass die Kinder so enden wie die Großmutter mütterlicherseits, die nämlich als Putzfrau arbeite. Was für ein Umgang? Zu viel Arbeiter*innenmilieu für so zarte Kinder! Wie soll aus denen noch etwas werden? Das sah das Gericht glücklicherweise anders; die Klage wurde abgewiesen.
»Solange die grundlegende Struktur des gesellschaftlichen Lebens und die auf ihr beruhende Kultur der gegenwärtigen Weltepoche sich nicht entscheidend verändern, wird die Familie als Produzentin von bestimmten autoritären Charaktertypen ihre (…) Wirkung üben«, schrieb Horkheimer in den »Studien über Autorität und Familie«. Kann das besser bebildert werden als durch das Urteil des OLG Braunschweig? Man liest es und denkt, vielleicht ist die Forderung aus dem Kommunistischen Manifest doch nicht so verkehrt. Wenn es nicht auch diese andere Seite von Familie gäbe. Familie, so Horkheimer, könne eben auch der Ort sein, an dem »Beziehungen nicht durch den Markt vermittelt sind, (…) sich die Einzelnen nicht als Konkurrenten gegenüberstehen«, sondern »die Entfaltung und das Glück des Andern« gewollt werden. Kurz: die »Ahnung eines besseren Zustands«. Man kann es vielleicht auch einfach Zuneigung, Liebe, Behaglichkeit und Schutz nennen. Es ist ambivalent.