Die neue Nettigkeit
Theresia Enzensberger, Zara Zerbe oder Dara Brexendorf: Auffallend viele Schriftstellerinnen haben in letzter Zeit utopisch-anarchistische Texte veröffentlicht
Von Julia Ingold
Im vergangenen Herbst erschien der Band »Anarchistische Gesellschaftsentwürfe« bei Unrast. Darin findet sich ein Essay des Schriftstellers Ilja Trojanow mit dem Titel »Von der Notwendigkeit von herrschaftsfreien Räumen zu erzählen.« »Ich glaube«, steht dort, »dass herrschaftsfreie Strukturen, Räume, Gedanken, Haltungen weniger unter dem Problem leiden (wie oft behauptet wird), dass sie nicht realisierbar sind, denn da gibt es ausreichend viele Beispiele. Vielmehr leiden sie darunter, dass sie selten erzählt werden.«
Der Essay ist ein Plädoyer für utopische Literatur und eine Mahnung, dass Dystopien allzu häufig Repression und reaktionären Zwecken dienen. Laut Trojanow haben Schriftsteller*innen heute »gegen die Folgen von jahrhundertelanger Durchherrschung nicht nur der Menschen und der Regionen und der Natur, sondern auch des geistigen Potenzials des Menschen zu kämpfen«. Er beklagt, dass deshalb auch die Sprache der Literatur »kaum mehr in der Lage ist, eine Ästhetik des Gemeinschaftlichen zum Ausdruck zu bringen.« Dystopien beleben linken Aktivismus nicht gerade, sondern lähmen ihn vielmehr.
Auf der Leipziger Buchmesse Ende März waren Spuren einer neuen Ästhetik des Gemeinschaftlichen zu entdecken. Junge Schriftstellerinnen widersetzen sich den, wie Trojanow sagt, »hysterischen Erzählungen« vom schlechten Menschen, die immer wieder der Rechtfertigung von Gewalt und Staatsmacht dienen. Diese neuen Texte sind im Kern unweigerlich anarchistisch, und der revolutionäre Raum ist der Gemeinschaftsgarten. Die Geschichten kippen von Tech-SciFi zu pflanzlichen Szenarien.
Meere, Gärten und Archive
Den Auftakt bildete längst vor der diesjährigen Messe 2022 Theresia Enzensbergers Roman »Auf See«. Enzensberger erzählt die Geschichte von Yada, die auf der technisch hoch entwickelten künstlichen Seestatt aufwächst, die ihr Vater, ein narzisstischer Tech-Unternehmer, gegründet hat, um jenseits eines von Klimawandel und angeblich von Chaos heimgesuchten Europas seine ideale, klassistische und streng hierarchisch organisierte Gesellschaft vor der deutschen Ostseeküste aufzubauen. Durchsetzt ist der Roman von Kapiteln mit der Überschrift Archiv. Es ist das Archiv der Künstlerin (und Hexe?) Helena, die über Jahre gescheiterte Versuche autoritärer Aussteigergesellschaften zusammenträgt. Yada flieht aus der Seestatt und endet in der Utopie einer wilden, selbstorganisierten Kleingartensiedlung bei Berlin, in der das gute Leben einfach schon existiert. Diese in der Nachbarschaft praktizierte Solidargemeinschaft, die weder viel Geld noch umständliche Planungen erfordert, steht im krassen Gegensatz zu den Entwürfen aus dem Archiv.
Ähnlich ist das in Zara Zerbes Roman »Phytopia Plus«, der im März im Verbrecher Verlag erschien. Wie »Auf See« spielt er in einer nahen Zukunft. Diesmal in einem etwa zur Hälfte bereits unter Wasser stehenden Hamburg. Dort arbeitet Aylin als Aushilfe in den Gewächshäusern der Drosera AG und pflegt Pflanzen, auf denen betuchte Egozentriker*innen nach ihrem Ableben ihr Bewusstsein haben speichern lassen.
Während die Oberschicht der Stadt sich in Gated Communities zurückgezogen hat, entsteht unter dem Radar der Ordnungsbehörden in den alten »Elbpassagen« ein kollektiver Kleingarten. Die Regale der verlassenen Geschäfte dort werden nie ganz leergeräumt, »weil ja immer noch was für die anderen übrigbleiben« soll. Formal schlägt sich diese Ästhetik des Gemeinschaftlichen in Kapitelchen nieder, die Zerbe den »Pflanzenchor« nennt. Es ist ein Chor im Sinne der griechischen Tragödie: Er kommentiert das Geschehen für das Publikum. Hier erzählen die (bespeicherten) Pflanzen von ihrer kollektiven Lebensweise: »Alles, was neu reinkommt, wird geteilt. / Und mitgeteilt! / Alles, was wichtig ist, sagen wir allen weiter. / Wir auch. / Bleibt alles unter uns. / Unter uns allen.« Damit werden die Pflanzen zum utopischen Modell, das in der geteilten Beute aus dem verlassenen Einkaufzentrum und dem dort entstehenden Gemeinschaftsgarten seine menschliche Entsprechung findet.
Der revolutionäre Raum ist der Gemeinschaftsgarten.
Ein zweites Beispiel für Experimente mit einer Ästhetik des Gemeinschaftlichen ist Dara Brexendorfs SUKULTUR-Heft »Restwärme« von 2023 aus der »Grünen Reihe«, die »Texte des Gartens« versammelt. Der Text, den Brexendorf in Leipzig auf einer Lesung vorstellte, ist in Wir-Form geschrieben und handelt von einem Freund*innenkreis, der sich einen Kleingarten teilt. Diese Gruppe spricht kollektiv (wie Zerbes Pflanzen): »Wir sagen: Dieser Garten hat einen Charakter. / Wir sagen: Unter dem Laub liegt Feinfühligkeit.« Und sie trauert kollektiv um ein »Gelände« in der Nähe, das nach jahrelanger Brache nun mit zwei Möbelhäusern bebaut wird: »Wir sagen: Warum haben wir die Brache nicht einfach hierüber gesetzt?« Der Bruch mit dem üblichen Fokus auf einer einzelnen Figur, sei es in der ersten oder dritten Person, hat einen besonderen Effekt beim Lesen. Die schöne Redundanz des »wir« macht die Gemeinschaft spürbar.
Zerbe und Brexendorf schreiben nicht nur über gute Dinge, sie suchen auch nach neuen Ausdrucksformen dafür. Ihre Figuren sind nett und helfen sich gegenseitig, jetzt das gute Leben zu leben. Die herrschaftsfreie Praxis ist bei Enzensberger, Zerbe und Brexendorf schon ganz in der Nähe und zugänglich für alle. Wer Geschichten erzählt, ist momentan ein großes Thema. Langsam wird auch hinterfragt, welche Geschichten erzählt werden. Der Faible für düstere Romane über schlechte Menschen kann zur ideologischen Sackgasse werden – oder um es mit Trojanow zu sagen: »Es wird allerdings ein enormer Aufwand betrieben, uns zu verrohen gegen eine selbstverständliche Haltung der universellen Empathie.« Wir brauchen nicht nur mehr Frauen, Queers oder PoC in den neuen Büchern, sondern auch mehr Nettigkeit.