Die lieben Kolleg*innen
Von Frédéric Valin
Neulich war ich auf einer Integrationsdisko. Ein Vereinsheim am Rande eines Industriegebiets, Inneneinrichtung aus den 1980ern, alles voller Vollholz, nur die Anlage war hochmodern. Aus der Anlage kam ziemlich viel Schlager raus, auf allen Veranstaltungen für Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung läuft Schlager, ich weiß ganz im Ernst nicht wieso. Vielleicht schreib ich da mal eine Doktorarbeit zu, andererseits: Dann müsste ich so viel Schlager hören, und ich habe schon nach einem Diskoabend zwei Wochen lang einen Ohrwurm von DJ Ötzi, meine Leidensfähigkeit hat einfach mal Grenzen.
Apropos Leidensfähigkeit. Hartnäckig hält sich der Glaube, Betreuer*innen und Pflegekräfte hätten anderen Berufsgruppen eine gewisse Menschlichkeit voraus. Durch den Kontakt mit den ernsten Seiten des Lebens stelle sich quasi eine Art Humanismus, ein Mitgefühl ein, vielleicht gar christliche Barmherzigkeit. Ich habe schon in viele vor Rührung glänzende Augen geschaut, wenn ich auf irgendwelchen Partys von meiner Arbeit erzählt habe: Leute, die danach in allen weiteren Fragen auf meine Meinung gezählt haben, weil ich, ich weiß nicht, vielleicht von der Weisheit des Elends gekostet habe?
Ich war auf dieser Party mit einer Kollegin, wir waren grandios besetzt, vier Bewohner*innen und zwei Betreuer*innen. Es hätte ein sehr entspannter Abend werden können. Die Kollegin – sie arbeitet auf einer Nachbargruppe, richtig gut kenne ich sie nicht, hatte aber immer den Eindruck, dass sie eine der Guten in dem Job ist, mit den Menschen da auf Augenhöhe spricht, sie ernst nimmt, auch eine gewisse notwendige Gelassenheit mitbringt – sah versonnen auf die Tanzfläche, wo gerade ein Mann im Rollstuhl zu Markus Becker headbangte mit einer Inbrunst, die mich an meinem Diktum zweifeln lässt, dass das absolut inakzeptable Scheißmusik ist, und sagte: »Ich bin ja schon ganz froh, dass meine Kinder nicht so sind.«
»Was?«, sagte ich.
»Naja, du weißt schon, halt nicht so.«
»Was?«, sagte ich, es kam völlig aus dem Nichts. Es hatte keinerlei Anzeichen gegeben, dass sich unser Gespräch so entwickeln würde, ich war absolut und zutiefst überrascht.
Im Nachhinein verstehe ich meine Überraschung nicht. Ableistische Einstellungen sind bei den Betreuer*innen und Pflegekräften die Regel, nicht die Ausnahme. Es gibt einen älteren Kollegen, der, wenn keine Leitung anwesend ist, immer von »Mongos« spricht (gleichzeitig sagt er, sobald der behandelnde Arzt auftaucht, immer Trisonomie, er macht das jetzt schon seit gut 30 Jahren). Es gibt die Kollegin, die sich weigert, mit einem der Bewohner in die Fußgängerzone Eis essen zu gehen, weil der sich immer so komisch anzieht und sie sich dann geniert. Es gibt den Kollegen, der immerzu genervt ist, weil die Bewohner*innen nicht schnell genug begreifen, nicht gut genug spuren. Einer der häufigsten Sätze, die ich in Dienstbesprechungen bei auffälligem, sozial störendem Verhalten gehört habe, war »Naja, deswegen sind sie ja hier«. Neulich erklärte mir eine Kollegin, die Bewohner*innen hätten es ganz toll hier, das müsse man doch auch mal sehen, statt immer nur an allem rumzukritteln. Auf meine Frage, ob sie gerne einziehen würde, antwortete sie: »Aber ich bin ja nicht so.«
Das sind Beispiele, die mir einfallen, ohne dass ich auch nur eine Sekunde darüber nachgedacht habe. Und das sind nur die anektdotenhaften Pointen.
Im Grunde müsste es allen klar sein, dass gerade Betreuer*innen und Pflegekräfte keine Heiligen sind und mindestens so ableistisch wie der Rest der Gesellschaft auch. Dass die Gesellschaft das getrost ignoriert und ständig den ganzen Berufsstand auf den Sockel hebt, ist einfach, weil sie ihren Ableismus darunter verdecken kann. Das Personal zu loben, ist ein hervorragendes Mittel, die Betreuten unsichtbar zu machen. Dann spricht man lieber über bessere Bezahlung als von den Umständen, in denen Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung leben. Weil mal ganz unter uns: Die meisten sind doch froh, dass sie nicht sind wie die.