Die Berlinale wird wieder politischer
Das Filmfestival erinnert daran, dass das Nachdenken über das Verhältnis von Klasse und Identität schon mal ein Stück weiter war
Von Till Kadritzke
Die politische Gegenwart als Wiederkehr der Weimarer Republik, mal anders: Der deutsch-afghanische Regisseur Burhan Qurbani hat Alfred Döblins Romanklassiker »Berlin Alexanderplatz« von 1929 neu verfilmt, dabei aber den Protagonisten ausgetauscht: Nicht mehr der deutsche Lohnarbeiter Franz Biberkopf schlägt sich durch die Hauptstadt, sondern der geflüchtete Francis, der nach der Mittelmeerüberquerung in Berlin landet und versucht, auch ohne Papiere ein anständiges Leben zu führen.
»Berlin Alexanderplatz« ist einer von 19 Filmen, die vom 20. Februar bis 1. März im Hauptwettbewerb der Berlinale laufen, der ersten Ausgabe des Festivals nach dem überfälligen Ende der biederen Ära unter Dieter Kosslick. Das neue Führungsduo um Carlo Chatrian als künstlerischem Leiter und Marietta Rissenbeek als Geschäftsführerin überraschte positiv mit einer vielversprechenden Filmauswahl und negativ mit der Auswahl des britischen Schauspielers Jeremy Irons als Jury-Präsidenten. Irons war in den letzten Jahren immer wieder mit homophoben und chauvinistischen Äußerungen aufgefallen, und die Berlinale musste auf das entsprechende mediale Echo mit einer Stellungnahme reagieren, in denen Irons sich von seinen Äußerungen distanzierte.
Dass die neue Berlinale trotzdem nicht nur an ästhetischem Wagemut, sondern auch an politischer Schärfe gewinnen dürfte, liegt eher an den Nebensektionen – und an einer besonderen Rückschau. Zum 50. Jubiläum des internationalen Forums des jungen Films führen die neue Forums-Leiterin Cristina Nord den kompletten ersten Jahrgang jener Sektion wieder auf, die 1971 aus einer politischen Auseinandersetzung hervorgegangen war. Nachdem die Kontroverse um den deutschen Anti-Vietnamkrieg-Film »O.K.« das Festival 1970 sprengte und zu einer Debatte um den Einfluss von Wirtschaft und Politik auf die Filmauswahl führte, gründete sich das Forum des jungen Films auch, um dezidiert politische Interventionen ins Programm zu holen und Stimmen aus dem globalen Süden hörbar zu machen.
So lieferte im Forum ’71 der illegal von einem Kollektiv gedrehte »End of the Dialogue« der Weltöffentlichkeit erstmals Bilder aus dem Alltag im Südafrika der Apartheid, der mauretanische Regisseur Med Hondo stellte seine wütende Rassismus-Anklage »Soleil O« vor, und der in ruhigen und umso eindrücklicheren Einstellungen gehaltene »Mauern aus Ton« fiktionalisierte einen militärisch niedergeschlagenen Streik in einem Steinbruch in Tunesien. Gleich drei Dokumentarfilme beschäftigten sich mit den Kämpfen Schwarzer Aktivist*innen in den USA nach dem Übergang von Civil Rights zu Black Liberation. Daneben liefen Rosa von Praunheims »Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt« ebenso wie die von einem US-Frauenkollektiv gedrehte Studie »The Woman’s Film« und Dusan Makavejevs wilder Kommunismus-Sex-Ritt »W.R. – Mysteries of the Organism«.
Dass all diese Filme nun noch einmal zu sehen sein werden, hat nicht nur nostalgischen Wert. Was etwa heute als Verhältnis von Klassen- und Identitätspolitik diskutiert wird, ist in all diesen Spiel-, Dokumentar- und Essayfilmen so unmittelbar miteinander verwoben, dass sich von einem Verhältnis kaum sprechen lässt; aktuelle theoretische Debatten lassen sich in ihrer Entstehung aus den Kämpfen selbst beobachten. Faszinierend auch, wie 1971 Tabubruch und »Free Speech« noch komplett linke Angelegenheiten sind, die B.Z. machte damals genervt den »ausnahmslos mit Linksdrall versehenen politischen Film« als Schwerpunkt des ersten Forums aus und konstatierte baff: »Bürgerliche Themen scheinen für die Avantgarde nicht zu existieren.«
Auch in seiner aktuellen Ausgabe thematisiert das Forum koloniale Vergangenheit und postkoloniale Gegenwart. Mit »Ouvertures« läuft ein Essayfilm des karibischen »The Living and the Dead Ensemble« über den haitianischen Revolutionsführer Toussaint Louverture, und Filme wie »Traverser« oder »Eyimofe« loten das vom Grenzregime bestimmte Verhältnis von Europa und Westafrika aus. Die Sektion Panorama will sich dagegen verstärkt postmigrantischen Perspektiven auf Deutschland widmen. Ein Highlight ist dabei ein Film, in dem der in Deutschland geborene Sohn zweier Exil-Iraner beim Ableisten seiner Sozialstunden ein gerade erst aus dem Iran geflüchtetes Geschwisterpärchen kennenlernt.
Regisseur Faraz Shariat verwebt seine Bestandsaufnahme deutscher Realität und migrantischer Identität in eine schwule Liebesgeschichte, die sich über weite Strecken wie ein waschechtes Feelgood-Movie anfühlt. Nicht weil er etwas beschönigen will, sondern weil er sich das gute Leben, das vor allem seinen geflüchteten Protagonisten verwehrt wird, wenigstens auf der Leinwand schon mal holen will – selbst wenn es vorerst nur in einem Tempus vorstellbar ist, das erst noch erfunden werden muss: »Futur drei« heißt Shariats Film, der zumindest daran erinnert, dass das Kino, auch heute, nicht nur Zustände anprangern, sondern auch lustvoll an einer linken Affektpolitik mitarbeiten kann.