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|ak 709 | Geschichte

»Frauen des arbeitenden Volkes!«

Der Sammelband »Feministische Internationale« ist ein Einblick in die Geschichte der proletarischen Frauenbewegung, von deren Erfahrungen wir heute noch lernen können

Von Hêlîn Dirik

Frauen marschieren am Internationalen Frauentag in Sankt Petersburg 1917.
Am Internationalen Frauentag 1917 in St. Petersburg streikten zehntausende Arbeiterinnen gegen Krieg und Hunger – ein Schlüsselmoment im Kontext der Februarrevolution. Foto: Public Domain

Ob im Kampf für sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung, in der Auseinandersetzung mit patriarchaler Gewalt und Ausbeutung oder in der Debatte um die Entlohnung von Hausarbeit ­– in weltweiten feministischen Bewegungen wird die Geschlechterfrage mit Arbeitskämpfen und der Klassenfrage verknüpft. Losgetreten von der NiUnaMenos-Bewegung in Argentinien begannen Feminist*innen auf der ganzen Welt 2017 mit jährlichen internationalen Frauenstreiks unter dem Motto »Wenn wir streiken, steht die Welt still«. Aktivist*innen tragen an diesen Tagen ihren Kampf für eine Welt ohne Patriarchat und Kapitalismus auf die Straßen, machen die unsichtbare Arbeit und Ausbeutung von Frauen und Queers sichtbar und betonen die Notwendigkeit von internationaler, feministischer Organisierung. Ein neuer Ansatz ist das keineswegs. Klassen- und feministische Kämpfe sind historisch verbunden und blicken auf eine lange gemeinsame Geschichte zurück. Der feministische Kampftag 8. März wurde von sozialistischen Frauen initiiert, so wie im Kampf für das Frauenwahlrecht Sozialistinnen und Arbeiterinnen an vorderster Front standen.

Der neu erschienene Band »Feministische Internationale«, herausgegeben von Vincent Streichhahn, versammelt Texte aus dreizehn Ländern, geschrieben von Frauen, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert Teil sozialistischer und anarchistischer Kämpfe waren. Einige wurden in diesem Sammelband erstmals ins Deutsche übersetzt. Die Beiträge – das sind neben Analysen auch Briefe, Appelle und sogar eine kleine feministische Science-Fiction-Erzählung –, bilden Themen ab, mit denen sich revolutionäre und materialistische Feminist*innen im Grunde bis heute auseinandersetzen. Der Band gibt einen Einblick in die Bedingungen, unter denen die proletarische Frauenbewegung in dieser Zeit für Gleichstellung, bessere Arbeitsbedingungen und für das Frauenwahlrecht kämpfte.

Unterdrückt von kapitalistischen und patriarchalen Strukturen zugleich, mussten Arbeiterinnen auch innerhalb der Arbeiter*innenbewegung um die Anerkennung ihrer Kämpfe ringen.

Mehrfache Ausbeutung

Die Auswahl der Texte stellt zum einen die wirtschaftlichen, familiären und gesundheitlichen Bedingungen dar, unter denen Arbeiterinnen im Gegensatz zu den Arbeitern, aber auch zu bürgerlichen Frauen, lebten. Als Frauen vom öffentlichen und politischen Leben ausgeschlossen und als Teil der Arbeiter*innenklasse ausgebeutet, wurden sie der Möglichkeit beraubt, sich politisch gegen Ausbeutung zur Wehr zu setzen, sich auf eigene Rechte zu berufen und sich durch Bildung ein Bewusstsein über die unterdrückenden Strukturen zu verschaffen. Das beschreiben etwa die Texte der deutschen Kommunistin Clara Zetkin, die den 8. März initiierte, oder der russischen Revolutionärin Nadeschda K. Krupskaja.

Unterdrückt von kapitalistischen und patriarchalen Strukturen zugleich, mussten Arbeiterinnen andererseits auch innerhalb der Arbeiter*innenbewegung um die Anerkennung ihrer Kämpfe ringen. Gleich mehrere Texte im Sammelband beschäftigen sich mit Auseinandersetzungen innerhalb der Bewegung. Etwa beim Thema Frauenarbeit, über deren Einschränkung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland diskutiert wurde, was auch zu Konfrontationen zwischen der proletarischen Frauenbewegung und ihren männlichen Genossen führte. Das behandelt der Beitrag der Sozialistin Gertrude Guillaume-Schack aus dem Jahr 1885, in welchem sie Argumente gegen die Frauenarbeit widerlegt, die sich etwa auf »Sittlichkeit« oder biologische Unterschiede beziehen und die teilweise auch von Vertretern der Arbeiter*innenbewegung vorgebracht wurden.

Andere Texte beschäftigen sich mit der Notwendigkeit der Organisierung von Arbeiterinnen und richten sich an die Männer in der Arbeiter*innenbewegung, zum Beispiel der Beitrag der deutschen Gewerkschafterin Emma Ihrer von 1891: »Genossen, unterstützt die Frauenbewegung, indem ihr euch nicht länger sträubt gegen die Selbstständigkeit der Frau«, appellierte sie darin und stellte dar, warum die Organisierung der Frauen keine Gefahr, sondern notwendig für die Bewegung ist und sich mit ihren Forderungen deckt. Die französische Sozialistin Flora Tristan richtete sich in einem Text aus dem Jahr 1843 ebenfalls an die männlichen Arbeiter: »Beweist, während ihr Gerechtigkeit für euch fordert, dass ihr selbst gerecht seid.« Und fast ein ganzes Jahrhundert später schrieb die spanische Anarchistin Lucía Sánchez Saornil über die männlichen Genossen: »Selbst wenn sie gegen Eigentum wettern, sind sie doch fanatisch besitzergreifend. Selbst wenn sie gegen die Sklaverei wettern, sind sie die grausamsten ›Herren‹.« Und doch vereint die meisten Texte das Verständnis, dass die Unterdrückung der Frau nur im sozialistischen Kampf, Hand in Hand mit den Genossen überwunden werden kann.

Für Frieden und Einheit

Der Großteil der Beiträge im Sammelband stammt von europäischen Frauen, doch besonders stechen die erstmals ins Deutsche übersetzten Beiträge aus Ländern außerhalb Europas hervor – von Autorinnen, die hier trotz ihrer bemerkenswerten Kämpfe und Schriften kaum bekannt sind. Zum Beispiel die japanische Anarchafeministin Kanno Sugako, die 1911 als erste weibliche politische Gefangene in Japan hingerichtet wurde. Ihre Schrift »Gedanken auf dem Weg zum Galgen« ist ein Protokoll der letzten Tage ihres Lebens und ein Liebesbrief an den Freiheitskampf, den sie führte. Auch die utopische Geschichte »Sultanas Traum« der bengalischen Schriftstellerin Begum Rokeya, erschienen 1905, hebt sich von den anderen, eher theoretischen Texten ab. Sie handelt von Ladyland, einer von Frauen geführten Gesellschaft, in der Kriege und Hungersnöte der Vergangenheit angehören.

Auf den letzten Seiten sind schließlich historische Dokumente aus den internationalen Konferenzen sozialistischer und kommunistischer Frauen aus dem frühen 20. Jahrhundert, teilweise zur Zeit des Ersten Weltkriegs, nachzulesen. Sie zeigen eindrücklich, dass der Kampf für Frauenrechte in der Arbeiter*innenbewegung keineswegs eine Nebensache war, sondern zentral für die Einheit und Emanzipation aller. Sozialistinnen setzten sich damals auch mit den Auswirkungen des Kriegs auf Frauen und ihrer Rolle im Kampf für Frieden auseinander. Bis heute führen sozialistische, anarchistische, kommunistische und revolutionäre Feminist*innen diese Diskussionen fort. Der Band bringt die Vielfalt, Kämpfe und Ursprünge der proletarischen Frauenbewegung in Erinnerung, in dessen Tradition heutige antikapitalistische feministische Kämpfe stehen. Mit »Feministische Internationale« ist eine beeindruckende historische Sammlung erschienen – ein Must-Read für alle, die sich materialistisch-feministisch organisieren.

Vincent Streichhahn (Hg.): Feministische Internationale. Texte zu Geschlecht, Klasse und Emanzipation 1832-1936. Karl Dietz Verlag, Berlin 2024. 236 Seiten, 20 EUR.

Hêlîn Dirik

ist Redakteurin bei ak.