»Ein Museum ist wie ein Gefängnis«
Der indigene Musiker Jeremy Dutcher über das kanadische Verständnis von Aussöhnung, über Geschlechterbinarität und kulturelle Aneignung
Interview: Gabriel Kuhn
Auch das neue Album »Motewolonuwok« (Hexen) des indigenen Musikers Jeremy Dutcher ist für den Polaris-Preis nominiert, der Mitte September in Toronto verliehen wird. Bereits 2018 gewann er diese Auszeichnung, eine Art »Album des Jahres« in Kanada. Gabriel Kuhn traf Jeremy Dutcher für ak anlässlich des indigenen Riddu-Riđđu-Festivals (ak 684) in Mannadalen in Norwegen.
Dein erstes Album »Wolastoqiyik Lintuwakonawa« enthält nur Nummern auf Wolastoqey, der Sprache der Wolastoqiyik. Es handelt sich um Arrangements von Liedern, die auf Aufnahmen zu hören sind, die in Kanadas Nationalmuseum für Geschichte in Ottawa verwahrt werden. Du hast sie dir dort angehört. Wie war es, für die Arbeit an deinem Album ins Museum gehen zu müssen?
Jeremy Dutcher: Ein Museum ist wie ein Gefängnis. Ein Gefängnis für Kultur. In unserer Gesellschaft gibt es keine strenge Trennung zwischen Menschen und Kultur. Kunstwerke, Kleider, Lieder – das sind in gewissem Sinne alles meine Verwandten. Klar, es mag dramatisch klingen, wenn ich davon spreche, dass ich Lieder aus dem Gefängnis befreit habe, aber die Befreiung der Kultur gehört zu der Befreiung des Menschen. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass das Museum in Ottawa liegt. Das ist weit weg von meiner Gemeinde, und die meisten Leute von dort kommen nie nach Ottawa. Ich musste die Lieder zu ihnen bringen. Nenn es musikalische Repatriierung.
»Wolastoqiyik Lintuwakonawa« wurde mehrfach ausgezeichnet. Als du bei den kanadischen Juno Awards 2019 den Preis für das indigene Album des Jahres entgegennahmst, wandtest du dich in deiner Rede direkt an den kanadischen Premierminister Justin Trudeau. Du stelltest das Verständnis der kanadischen Regierung von »Aussöhnung«, reconciliation, infrage. Hat dir Trudeau jemals geantwortet?
Ich warte immer noch auf seinen Anruf! Nein, im Ernst: Ich hatte nie große Hoffnungen, aber es war wichtig, das anzusprechen. Ein bisschen etwas bewegt sich. Hier auf dem Festival werde ich beispielsweise die kanadische Botschafterin in Norwegen treffen. Aber den Begriff der Aussöhnung verwende ich kaum noch. Ich meine, die kanadische Regierung redet davon und schickt gleichzeitig das Militär in indigene Gebiete, nur weil Menschen unbewaffnet gegen Kahlschläge protestieren. Was ist dieser Begriff unter solchen Umständen wert? Heuchelei macht mich rasend. Außerdem: Haben wir Mitschuld an unserer Unterdrückung? Was bedeutet Aussöhnung? Es geht um Gerechtigkeit. Die Verantwortung dafür liegt bei der Regierung.
Jeremy Dutcher
ist 33 Jahre alt und gehört der indigenen Gesellschaft der Wolastoqiyik an, deren ursprüngliches Siedlungsgebiet sich heute auf die kanadischen Provinzen New Brunswick und Quebec sowie den US-Bundesstaat Maine verteilt. Dutcher wurde als Opernsänger ausgebildet, widmet sich jedoch zunehmend der Musiktradition der Wolastoqiyik.
Du bist zum zweiten Mal beim Riddu-Riđđu-Festival. Es gilt als weltweit größtes indigenes Festival. Was bedeutet es für dich, hier zu sein?
Riddu Riđđu ist einmalig. Angehörige indigener Gesellschaften aus der ganzen Welt zu treffen, hat ungeheure Kraft. Es zeigt auch unsere Widerstandsfähigkeit. Trotz allem, was wir erfahren haben, sind wir immer noch hier. Wir sprechen unsere Sprachen, wir feiern unsere Kulturen. Was wichtig ist: Liebe ist die Grundlage indigenen Denkens. Um uns herum gibt es viel Hass. Riddu Riđđu ist ein Mikrokosmos, der zeigt, dass die Welt auch anders aussehen kann.
Das Festival schenkt in diesem Jahr indigenen LGBTQ-Personen besondere Aufmerksamkeit. Du bezeichnest dich selbst als two-spirit. Der Begriff ist in Europa nicht allzu bekannt.
Auch in Nordamerika wird er erst seit den 1990er Jahren für Menschen in indigenen Gesellschaften verwendet, die sich der Geschlechterbinarität entziehen. Ich musste ihn mir aneignen, ich wuchs nicht mit ihm auf. Aber ich verstand seine Bedeutung, als ich andere indigene LGBTQ-Personen traf. Unsere Sprache bestimmt die Grenzen unseres Denkens. Eine reichere Sprache erlaubt es dir, dich besser zu verstehen. Traditionell gab es in unserer Gesellschaft keine strenge Zweiteilung der Geschlechter, doch die Christianisierung hat viel zerstört. Heute kommt das alte Wissen zurück. Das ist unerhört wichtig, denn wenn sich verschiedene Formen der Unterdrückung überlappen, wird es immer gefährlich. Ich habe das oft selbst genug erfahren müssen. Das Riddu-Riđđu-Festival leistet einen enormen Beitrag, indem es die middle people, die »Menschen dazwischen«, ins Zentrum rückt.
Heute hat Musik weniger mit Gemeinschaft als mit Geld zu tun.
Jeremy Dutcher
Auch dein zweites Album »Motewolonuwok« ist für den Polaris-Preis nominiert. Dieses Mal singst du zum Teil auch auf Englisch. Warum?
In meiner Welt mischen sich Wolastoqey und Englisch. Ich wollte mich an die Menschen wenden, die mein erstes Album mochten, Wolastoqey aber nicht verstehen. Ich hätte leicht noch mehr Alben wie »Wolastoqiyik Lintuwakonawa« machen können, Material gibt es genug. Aber wer will immer das Gleiche machen?
Du vereinst unterschiedliche musikalische Traditionen. Wir sprechen heute viel von kultureller Aneignung. Wer darf welche Kunstformen verwenden?
Die Frage unserer Zeit! Einfache Antworten gibt es keine. Alles hängt vom Kontext ab. Wenn ich mit den Liedern der Wolastoqiyik verantwortungsvoll umgehe, muss ich wissen, woher sie kommen und was sie bedeuten. Eine der Motivationen, sie mit westlicher Musik zu verbinden, war für mich, dass das schon oft getan wurde – aber meist schlecht, ohne Verantwortung. Leute verwenden indigenes Liedgut, weil es »nett klingt«. Aber das reicht für uns nicht. Indigene Gesellschaften haben erfolgreich gegen die Aufführung von Opern protestiert, in denen ihr Liedgut verwendet wurde, ohne dessen kulturelle Bedeutung zu respektieren. Gleichzeitig sprechen wir davon, dass Lieder »wie der Wind« sind. Du kannst sie nicht aufhalten, und du sollst es nicht tun. Sie sollen sich verbreiten und Menschen zusammenbringen. Doch heute hat Musik weniger mit Gemeinschaft als mit Geld zu tun. In diesem Kontext fällt es leicht, sie zu missbrauchen.