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Der Frühsommer der Ostfrauen

Autorinnen wie Paula Fürstenberg erzählen subtiler als ihre männlichen Kollegen von Gewalt und Verletzungen der Nachwendezeit

Von Nane Pleger

Porträtfoto von Paula Fürstenberg, im Hintergrund eine Treppe.
Findet Spuren eines Landes, in dem sie nie wirklich gelebt hat: die Autorin Paula Fürstenberg. Foto: Jonas Ludwig Walter

Als vor zwei Jahren Hendrik Bolz, Daniel Schulz und Domenico Müllensiefen ihre literarischen Bücher über die Zeit nach 1989 in Ost-Deutschland veröffentlichten, war vom »Frühjahr der Ostbücher« die Rede. Ich habe das ironisch in »Frühjahr der Ostmänner« umbenannt (ak 683). Nun sind in der ersten Hälfte dieses Jahres erneut drei Bücher erschienen, die sich mit den Spuren der DDR in den nachkommenden Generationen beschäftigen: »Weltalltage« von Paula Fürstenberg, der Gesprächsband »Drei Ostfrauen betrinken sich und gründen den idealen Staat« von Annett Gröschner, Peggy Mädler und Wenke Seemann und »Alles immer wegen damals« von Paula Irmschler. Alles also Autorinnen. 

Allerdings hat noch niemand den »Frühsommer der Ostfrauen« ausgerufen. Über die Gründe dafür habe ich Anfang Juli mit der Autorin Paula Fürstenberg gesprochen. Sie debütierte 2016 mit dem Roman »Familie der geflügelten Tiger«, der Ost-Deutschland nach 1989 als Schauplatz hat. Treibende Momente ihres Buches sind Fragen nach der Vergangenheit der Familie der Protagonistin. Anscheinend ist diese Familie mit der DDR untergegangen. Auch in »Weltalltage«, Fürstenbergs zweitem Roman, ist die Protagonistin 1989 geboren und findet in ihrem Leben, in ihrem Körper die Spuren eines Landes, in dem sie nie wirklich gelebt hat.

Acht Jahre liegen zwischen den beiden Veröffentlichungen – eine Zeit, in der sich viel verändert hat. Fürstenberg erzählt, dass sich ihr neues Buch in den Diskurs um die »Nachwendegeneration« einreiht und sie sich selbst mit diesem Begriff bezeichnen kann, der für ein Verständnis des schwierigen Aufwachsens in Zeiten des Umbruchs steht. Außerdem veröffentlichten die Ost-Männer ihre Texte und mit ihnen etablierte sich der Begriff »Baseballschlägerjahre«. Unter dem gleichnamigen Hashtag fingen die Nachwendekinder an, digital von ihrer Version der Geschichte zu erzählen. Die Gewalt, die die ostdeutsche Wirklichkeit nach 1990 prägte – und die in krassem Gegensatz zu den »blühenden Landschaften« des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl stand –, wurde zunehmend thematisiert. Was die Geschichten in den Tweets und den Büchern offenbarten, war grausam: Hass, Hetze, Rassismus und eine gewaltvolle Männlichkeit. 

Die drei neuen Bücher der Autorinnen verschieben den Diskurs etwas, indem sie von Weiblichkeit erzählen. Auffallend ist, dass die Gewalt zwar einen Schatten auf die Erzählungen wirft, sie aber nicht handlungstragendes Element ist. Im Gespräch überlegt Fürstenberg, ob das ein Grund dafür sein könnte, dass die Bücher der »Ostfrauen« weniger breit rezipiert werden – sie erzählen alle drei nicht von Extremfällen, weder von der Gewalt der Neonazis noch von der Gewalt in der DDR. 

Schmerzhafte Spuren in den Körpern

Fürstenberg sagt, dass sie in »Weltalltage« von der Intersektionalität einer Identität zu erzählen versuche. Die Protagonistin des Romans ist chronisch krank, ohne eindeutige Diagnose, und stolpert auf ihrem Bildungsweg immer wieder über ihre Herkunftsklasse, kämpft mit der Leerstelle ihres abwesenden Vaters und mit den Vorstellungen ihrer Mutter, die vorwiegend mit sich selbst und ihrer Arbeit beschäftigt ist. In den Körper der Figur haben sich verschiedene schmerzhafte Spuren eingeschrieben, die aber nicht einfach ausschließlich mit der Gewalt der Wendezeit erklärt werden.

Trotzdem ist die Gewalt auch für die Protagonistin präsent: »Die Gewalterfahrungen mit Bullen und Nazis hatten sie bis ins Knochenmark erschüttert und Körper hervorgebracht, die jederzeit bereit waren, zuzuschlagen.« So beschreibt Fürstenberg die »Keulen«, wie sich eine Antifa-Gruppe in ihrer ost-deutschen Heimatstadt nennt. Sie erkennt, dass wegen der Antifa »die Nazis nur Nebenfiguren in (ihrer) Jugend waren und nicht der Plot.« Damit reflektiert der Roman, wie staatliche Strukturen in den 1990er Jahren angesichts der rechten Gewalt völlig versagten und linke Gruppierungen sich dagegen wehrten und welch hohen Preis sie dafür zahlen mussten – körperlich wie psychisch. Der beste Freund der Protagonistin sagt, dass er, sollte er je in eine leitende Position zur Gestaltung des öffentlichen Raums kommen, der Antifa im Osten ein Denkmal in Form eines riesigen horizontalen Blocks bauen würde.

»Weltalltage« setzt dem Widerstand gegen rechtsextreme Gewalt ein kleines literarisches Denkmal.

Auch wenn es nur ein kleiner Seitenstrang in »Weltalltage« ist – das Buch setzt dem Widerstand gegen die rechtsextreme Gewalt ein kleines literarisches Denkmal, ohne ihn zu romantisieren oder zu glorifizieren. Und ein großes Denkmal setzt es den unsichtbaren Narben, den Krankheiten und Verletzungen, die während der Transformationen der letzten drei Jahrzehnte die Körper und Menschen formten, für die man keinen Namen hat, deren Auswirkungen aber spürbar sind. »Weltalltage« bringt diese schmerzhaften Erfahrungen außerdem in den Kontext anderer gesellschaftlicher (Macht-)Strukturen, die auf einen (weiblichen) Körper in der Nachwendezeit einwirkten, und bietet somit eine komplexe und nicht vereinfachende Analyse dieser Zeit. Ein Buch, das, wie die anderen zwei aus diesem Frühsommer der Ost-Frauen, sehr lesenswert ist. 

Selbstverständliche Beleidigungen

Nachtrag: Kurz nach der Fertigstellung dieses Artikels erschien Mitte Juli ein Roman, der den Frühsommer der Ost-Frauen in einen Hochsommer der Ost-Frauen verlängerte: »Die schönste Version« von Ruth-Maria Thomas. Wie Fürstenberg und Irmschler erzählt auch Thomas vom Heranwachsen einer jungen Frau im Ost-Deutschland nach 1989. In den Texten von Bolz und Schulz wurde eine Jugendkultur gezeichnet, die Weiblichkeit abwertet. »Pussy«, »Mädchen«, »Fotze« – alles Beleidigungen, die zuhauf in den autofiktionalen Texten wie selbstverständlich fallen. Thomas‘ Roman erzählt, wie es für eine weibliche Person ist, in einer solchen Kultur aufzuwachsen. 

Am Beispiel der Ich-Erzählerin Jella wird deutlich, dass für Frauen Übergriffe, Angst und Scham an der Tagesordnung waren. Jella wächst in einer ost-deutschen Kleinstadt auf, hat, eben typisch für die Nachwendekindergeneration, Eltern, die mit sich beschäftigt sind, und versucht, sich ihrer Zeit, ihrer Generation anzupassen. Mit eindrucksvollen Worten erzählt Thomas, wie Jella sich immer durch die Augen ihrer männlichen Altersgenossen wahrnimmt und für die Anerkennung der Männer immer wieder in Kauf nimmt, dass ihre Grenzen überschritten werden.

Anders als in »Weltalltage« ist Gewalt hier tragendes Handlungselement in Gestalt der gewaltvollen Grenzüberschreitungen, die junge Mädchen und Frauen in der Jugendkultur der 1990er und Nullerjahre erleben mussten, für die sie aber keine Worte hatten. So heißt es an einer Stelle: »Sagte mir, es sei doch klar, dass er schneller ranging, schließlich war er älter, und, na ja, außerdem ein Typ, die können sich nicht so gut beherrschen, der steht halt auf mich, sagte ich mir.« Ungefragtes Anmachen und Anfassen gehören zum Alltag von Jella. Anstatt dies zu problematisieren, versucht sie, dieses übergriffige Verhalten zu verklären und zu normalisieren. Mit dem Heranwachsen versteht sie langsam immer mehr, dass diese Gewalt alles andere als normal ist. »Die schönste Version« ist eine heftige, literarische Antwort auf die Baseballschlägerjahre, eine feministische Reaktion auf die Ost-Männer und gibt zusammen mit den anderen Ost-Frauen differenzierte Perspektiven auf diese spannungsgeladene Umbruchszeit, die angesichts der aktuellen Wahlen in Ost-Deutschland wieder mehr Aufmerksamkeit bekommt.

Nane Pleger

ist Autorin und schreibt für ak meist über Bücher, deren Geschichten sie als Verhandlungsort von gesellschaftlichen Narrativen sieht.

Paula Fürstenberg: Weltalltage. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2024. 320 Seiten, 23 EUR;

Ruth-Maria Thomas: Die schönste Version. Rowohlt, Hamburg 2024. 272 Seiten, 24 EUR.