Der Fluch der Kulturindustrie
Die zweite Staffel von »Arcane« ist mehr Marvel als Magie
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Arcane« ist die wahrscheinlich erfolgreichste und teuerste Zeichentrickserie aller Zeiten. Sie basiert lose auf dem Videospiel »League of Legends« und schaffte als erste Serienadaption eines Spiels den Sprung in die Mainstreamkultur und konnte sowohl Animations- (Annie Awards) als auch Fernsehpreise (Emmys) gewinnen. Insgesamt soll die aufwendige animierte Produktion fast 250 Millionen Euro gekostet haben, womit die Kosten pro Folge fast die der populärsten Serien der Kulturindustrie wie »Game of Thrones« erreichen, was sich in wundervollen Charakerdesigns und Farbzeichnungen widerspiegelt.
Die Geschichte spielt in einem retrofuturistischen Stadtstaat, der in die reiche Oberstadt Piltover und die verarmte und von Gasen verseuchte Unterstadt Zaun geteilt ist. In dem lebensfeindlichen und von Gasen verseuchten Umfeld der Unterstadt wachsen die beiden Protagonistinnen und Schwestern Vi und Powder auf. Sie sind durch den asymmetrischen Krieg zwischen Ober- und Unterstadt zu Waisenkindern geworden und schlagen sich als liebenswürdige Nachwuchsgaunerinnen durch. Vander, der Anführer der Unterstadt Zaun, ist nach Jahren von Krieg und Tod vom bewaffneten Kampf abgekommen. Er adoptiert die Schwestern und paktiert nun mit den Piltover Besatzungspolizisten, auch um Vi und Powder zu schützen.
Vanders alter Freund und Kampfgefährte, der Unterweltboss Silco, möchte den Kampf gegen Piltover fortsetzen und eher Richtung Terrorismus radikalisieren. Im Laufe der Geschichte kämpft Silco für die Unabhängigkeit von Zaun und adoptiert Powder, die er als eine Mischung aus Tochter und Gangsterin protegiert. Powder hochbegabt, aber psychisch instabil, nimmt diese Rolle an, und gibt sich den Kampfnamen Jinx, in Anspielung darauf, dass sie immer wieder als Jinx (Fluch) beleidigt worden war. Während Jinx als Ein-Frau-Armee den Weg des Terrorismus geht und zu einer Ikone des Widerstands wird, sucht Vi trotz aller Schmerzen eher eine Aussöhnung mit Piltover. Sie verliebt sich in Caitlyn, die als Polizistin aus der Oberklasse allerdings Jinx zur Strecke bringen will. Die Dreiecksbeziehungen dieser Figuren tragen den wundervollen, traurig-schönen Hauptstrang der Handlung.
In Piltover wollen derweil der aus dem Handwerkerproletariat in die Bourgeoisie aufsteigende Wissenschaftler Jayce und sein aus dem Zauner Lumpenproletariat stammende Kollege Viktor Technologien entwickeln, um Leiden zu mindern. Dies gelingt zunächst überraschend gut, bringt aber neue Waffensysteme und schließlich durch Viktors bahnbrechende Modifikationen sogar einen magischen Faschismus hervor.
Bei diesen und einigen weiteren Personen wie der Unterweltgangsterin Salvica oder der Oberklassenpolitikerin Mel gelingen komplexe Charakterzeichnungen. All diese Figuren haben trotz ihrer Verstrickungen in die Gewaltverhältnisse auch positive Eigenschaften und bearbeiten übergreifende Themen wie Klasse, Hybris der Wissenschaft, Krieg, Gewalt, Trauma, Widerstand, Überleben und Verzeihen in einer Vielzahl moralischer Grau-Schattierungen. »Arcane« ist damit nicht nur eine wunderschön animierte Welt, sondern auch eine Allegorie auf vielschichtige Klassenkonflikte in semikolonialen Verhältnissen. Sie übertrifft mit ihren widersprüchlichen Charakteren ähnlich gelagerte Geschichten, etwa der »Star-Wars«- oder »Herr-der-Ringe«-Franchises.
In der zweiten Staffel, die nun zu sehen ist, wird dieser Ansatz jedoch leider immer mehr durch eine Schwarz-Weiß-Erzählung abgelöst. Jetzt kämpfen Zaun und Piltover gemeinsam gegen die Bösen, die eindimensional bleibende Eroberin Ambessa und den durch Gift und Magie korrumpierten Viktor. Um Leid und Krieg zu vermeiden, will Viktor nun jegliche menschliche Handlungen durch ein perfektes Über-Ich ersetzen. Die Gleichschaltung durch Magie erschafft einen neuartigen absoluten Totalitarismus, der die Geschichte verflacht und hauptsächlich den Zweck zu haben scheint, die Handlung schnell zu einem spektakulären Ende zu bringen.
Der Endkampf der guten Volksfront gegen das Böse eines militärischen und eines metaphysischen Führers – mit eigentlich nur noch willenlosen Fußsoldat*innen – ist dann nicht mehr viel interessanter als der Endkampf der guten Allianz in »Herr der Ringe« gegen den bösen Sauron. Gerade, weil die Serie mehr sein könnte, ist es schade, dass sie in eine klassische Superheldengeschichte zurückfällt.
Die Idee eines metaphysischen Führers, der, um Fehler und Schmerzen zu vermeiden, alles Menschliche überhaupt zum Verschwinden bringt, spielt mit dem philosophischen Konzept der Aufhebung aller Widersprüche. Viktor, so könnte man sagen, wird zum Weltgeist, der zu sich selbst kommt. In vielen möglichen Welten spielt er immer wieder die Geschichte von Klassengesellschaft, Schmerz und technologisch-magischen Faschismus durch, löst dabei aber Gesellschaft einfach auf, statt ihre Widersprüche zu entfalten.
Ähnlich wie mit Viktor verhält es sich auch mit der Serie im Ganzen, die in einer flachen Versöhnung endet, statt die Ursachen für die Klassenkonflikte und Schmerzen zu ergründen und dadurch Gesellschaft besser zu begreifen. Je mehr das Ganze von einem Marvel-artigen Farbenfeuerwerk untermalt wird, desto substanzloser wird die Serie. Die Magie der Kulturindustrie wirkt letztlich leer.