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Zehn Stunden täglich

Aber TV statt Training. Olympia 2024: ein Tagebuch

Von Nelli Tügel

Laptop-Bildschirm, auf dem Leichtathletik läuft, in einem dunklen Raum
Sport schauen, bis der Arzt kommt. Das war Olympia 2024. Foto: ak

Olympia ist immer eine schwierige Saison für soziale Kontakte. Erstens bleibt einfach wenig Zeit, wenn man (also: ich) zehn bis zwölf Stunden täglich dafür aufbringen muss (also: will), die Wettkämpfe zu verfolgen sowie flankierende Recherchen zu betreiben (Texte lesen, thematisch passende Podcasts und Netflix-Dokus konsumieren, Whitneys »One Moment in Time« ballern). Zweitens ist bei Freund*innen und Bekannten nie so ganz klar: Interessieren sie sich auch für die Spiele, und wenn ja, wie sehr? Wie weit kann ich gehen? Wollen sie nur fünf Minuten bisschen über dies und das plaudern, oder sind sie bereit, einen dreistündigen Vortrag über die Läuferin Sifan Hassan zu hören? Darum ziehe ich mich in dieser Zeit traditionell eher zurück und mache die olympic experience hauptsächlich mit mir selbst aus. Und meinem Tagebuch. 

23. Juli: Seit 48 Stunden Gefangene der Insta-Storys des US-Turnerinnenteams, das bereits in Paris angekommen ist.

25. Juli: Ich gehe Olympia all in, ich bin die Snoop Dogg von Berlin. (Nur leider ohne die tägliche Gage von 500.000 US-Dollar.)

26. Juli: Bei der Eröffnungsfeier werfen die Athlet*innen des algerischen Teams Rosen in die Seine, als Erinnerung an das Massaker vom 17. Oktober 1961. Damals wurden mindestens 200 Algerier*innen, die in Paris für die Unabhängigkeit demonstriert hatten, von der Polizei ermordet und in den Fluss geworfen. 

27. Juli: Apropos französischer Kolonialismus. Die Surfwettkämpfe finden im Südpazifik (auf Tahiti) statt, weil Frankreich da halt noch Inseln besitzt?!?

28. Juli: ES geht los! Qualifikation im Geräteturnen der Frauen. Ich liebe es, anderen beim Turnen zuzuschauen, schon seit ich denken kann. Hat bestimmt etwas damit zu tun, dass ich selbst null Grazilität und turnerische Begabung besitze (bin eine von denen, die – wie Simone Biles in der neuen Netflix-Doku sagt – »nicht mal ein Rad schlagen können«). Hat aber auch etwas damit zu tun, dass diese Sportarten den Alltags-Struggle im Kapitalismus so pointiert nachstellen: Man schuftet jahrelang, nur um dann einen Millimeter daneben zu treten und vom Balken zu stürzen, womit natürlich alles dahin ist. Aber die Übung muss man trotzdem noch zu Ende bringen. 

This is gonna be my new fight for action: free healthcare in America.

US-Rugby-Spielerin Ariana Ramsey

30. Juli: Daniel Wiffen gewinnt Gold im 800-Meter-Freistilschwimmen, für die Republik Irland (also hauptsächlich natürlich für sich, aber ihr wisst schon, wie ich meine). Liebe seinen authentischen nerdy Vibe ebenso wie die Tatsache, dass er Nordire ist und sich – das steht nordirischen Athlet*innen bei Olympia nämlich frei – dafür entschieden hat, nicht für das UK, sondern für Irland zu schwimmen. 

4. August: Kaylia Nemour startet für Algerien und gewinnt im Einzelfinale am Stufenbarren die erste olympische Turnmedaille für Afrika überhaupt. Geboren wurde sie in Saint-Benoît-la-Forêt in Frankreich, für das Nemour bis zu einem Streit vor einigen Jahren turnte. Btw: Die französischen Turnerinnen sind – anders als Nemour – schon in der Qualifikation ausgeschieden. Hihi. 

4. August: Dieses 100-Meter-Finale der Männer ist echt das Peinlichste, was ich seit Langem gesehen habe. 

5. August: Simone Biles und Jordan Chiles verneigen sich auf dem Siegerinnentreppchen vor Rebeca Andrade, die das Einzelfinale im Bodenturnen gewonnen hat. Ich heule. 

9. August: Rayguns Auftritt beim Breakdance-Wettbewerb ist echt das Peinlichste, was ich seit dem 100-Meter-Finale der Männer gesehen habe. 

9. August: Free Afghan Women! Die Breakerin Manizha Talash, geflüchtet 2021 vor den Taliban, tritt für die Refugee Olympic Team an und wird dafür, dass sie während des Wettkampfes einen Umhang mit den Worten »Free Afghan Women« enthüllt, disqualifiziert. Ich heule.

9. August: Imane Khelif ist Olympiasiegerin! 

11. August: Die Abschlussveranstaltung war dermaßen drüber, dass ich das Kapitel Olympia 2024 nun ohne Trennungsschmerz abhaken und die Spiele wieder als das sehen kann, was sie sind: Eine absurde Inszenierung, für die wohnungslose Menschen aus Paris vertrieben, Bauarbeiter*innen ausgebeutet (ak 704) und die Seine für eine schlappe Milliarde Euro »gereinigt« wurden. Ja, ja: Es gibt keine richtigen Spiele im falschen.

11. August: US-Rugby-Spielerin Ariana Ramsey ist begeistert von der Gesundheitsversorgung, die sie in Frankreich kennengelernt hat. Sie kündigt an: »This is gonna be my new fight for action: free healthcare in America.« Willkommen, Genossin!

12. August: Apropos Gesundheit. Daniel Wiffen liegt im Krankenhaus. Er ist nicht nur im Becken über die 800 Meter Freistil zu Gold geschwommen, sondern hat auch das 10-Kilometer-Freiwasserschwimmen mitgemacht. In der »gereinigten« Seine. GuBe!

14. August: Schon mehrere Menschen haben mit mir einen Eindruck geteilt: Es waren, so deren und auch mein Gefühl, überdurchschnittlich viele, die die Olympiade interessiert verfolgt haben. Liegt es daran, dass man sich dieser Tage mehr als sonst nach etwas Seelenfrieden sehnt, danach, einem Spektakel beizuwohnen, das für zweieinhalb Wochen den trüben Schein erweckt, dieser ganze Nationen-Mist könne doch irgendwie funktionieren?

Nelli Tügel

ist Redakteurin bei ak.