Das Recht auf Faulheit
Von Moritz Assall
Ein »neues Universum« beschrieb Paul Lafargue in seiner berühmten, 1880 erschienen und – vorsichtig formuliert – schon damals eher polarisierenden Streitschrift »Le droit à la paresse« (Das Recht auf Faulheit). Das Buch war eine Antwort auf die zuvor von Louis Blanc erhobene Forderung auf ein »Recht auf Arbeit« zur Existenzsicherung aller Menschen. Lafargue konnte diesem Gedanken nicht besonders viel abgewinnen. Er schrieb, in der kapitalistischen Gesellschaft sei »die Arbeit die Ursache des geistigen Verkommens und körperlicher Verunstaltung« und überhaupt bedeute Lohnarbeit in dieser Form »adieu Freude, Gesundheit, Freiheit – adieu alles, was das Leben schön und lebenswert macht«. Das auf die Arbeit und das Recht daran fixierte Proletariat sei »dem Maulwurf gleich, der in seiner Höhle herumwühlt, und sich nie aufrichtet, um mit Muße die Natur zu betrachten«. Lafargues »bummelistisches Manifest« schließt entsprechend, nicht ganz unpathetisch: »Oh Faulheit, erbarme du dich des unendlichen Elends! Oh Faulheit, Mutter der Künste und der edlen Tugenden, sei Du der Balsam für die Schmerzen der Menschheit!«
Oh Faulheit, Mutter der Künste und der edlen Tugenden, sei Du der Balsam für die Schmerzen der Menschheit!
Heute, gut 140 Jahre später, erleben Faulheit und Müßiggang nicht gerade ihre Blütezeit. Obwohl ziemlich offensichtlich ist, dass etwas mehr Seelenbaumelei den meisten Menschen wohl ganz gut tun würde, umweht das Faulenzer*innentum stets der Hauch des Parasitären. Das schlägt sich auch in der Rechtslage nieder, etwa durch gesetzlich geforderte »Eigenbemühungen zur Eingliederung in Arbeit«. So überrascht auch ein Urteil des Landessozialgerichts Hamburg nicht, das vor wenigen Jahren genau hierzu erging. Dem Kläger, der zum damaligen Zeitpunkt Arbeitslosengeld II erhielt, hatte das Amt aufgetragen, sich rege zu bewerben. Das tat er auch. Allerdings pflegte er seinen Bewerbungen stets »Mottolisten« beizulegen, in denen er sich stichwortartig unter anderem mit den Themenbereichen Erholen, Schlafen, Gymnastik, Zahnweh, Grippe, Migräne, Kunst und Sex auseinandersetzte. Das Amt war davon wenig angetan, denn die darin enthaltenen Schilderung der »in der Intimsphäre angesiedelten Vorlieben« würden potenzielle Arbeitgeber*innen abhalten, »seiner Bewerbung näherzutreten«. Und mehr noch: Die Beifügung solcher Listen lasse »vielmehr den Schluss zu«, dass er »eine Einstellung verhindern wolle«. Das wollte er wiederum nicht auf sich sitzen lassen, klagte und machte vor Gericht geltend, dies diene nur der optimalen Stellenbesetzung, denn Bewerbungen seien »nicht belohnungsorientiert, sondern authentisch abzufassen«. Die »Mottologie« sei ein wesentlicher Teil seines Leistungswerdegangs und gehöre darum eben dazu.
Das überzeugte das Landessozialgericht Hamburg aber nicht so richtig. Es urteilte ganz unbummelistisch: »Dass die Beifügung der Mottoliste des Klägers mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Scheitern jeglicher Bewerbungsbemühungen führen würde, ergibt sich daraus, dass es den Üblichkeiten von Bewerbungsverfahren offensichtlich widerspricht, Darlegungen über die innersten Einstellungen und Anschauungen zu Sexualität und Geistes- bzw. Gefühlswelt vorzulegen. Dem Leser solcher Darlegungen wird sich der Eindruck aufdrängen, dass es dem Bewerber jedenfalls nicht um die angebotene Stelle, sondern eher um das Erforschen und Umkreisen des eigenen Persönlichkeitskerns geht. Die darin liegende Manifestation des Desinteresses an der konkreten Tätigkeit und der Konzentration auf die eigene Persönlichkeit wird potenzielle Arbeitgeber nach der Lebenserfahrung abhalten, den Kläger für eine Stelle auszuwählen. Anders als der Kläger meint, gibt seine Mottoliste keinen Aufschluss über seinen Leistungswerdegang; sie hat erkennbar weder beruflichen Bezug noch berufliche Relevanz.« In anderen Worten: Der will gar nicht! Ein moderner Bartleby quasi – I would prefer not to, ausgedrückt in Stichworten zu Zahnschmerzen und Sex. Ob es so ist? Wer weiß. Der Philosoph Bertrand Russell jedenfalls schrieb einmal, unter den Menschen, »die das Nichtstun« vorziehen, befänden sich »alle diejenigen, die die Gesellschaft verachtet, solange sie leben, und ehrt, wenn sie tot sind«. Aber das wäre für den Kläger wahrscheinlich kein so guter Trost.