Das letzte Hemd hat keine Taschen
Von Moritz Assall
Je unerfüllter das Leben, desto größer die Todesangst«, schrieb die Philosophin Gisela Daschner und zitiert im selben Text aus einem Brief des Dichters Clemens Brentano an seine Schwester: »Was wir erinnern, das verlebendigen wir und was wir vergessen, das töten wir.« Weniger zärtlich, fast schon grob hingegen Adorno: »Der Hass gegen die Verstorbenen ist Eifersucht nicht weniger als Schuldgefühl. Der Zurückbleibende fühlt sich verlassen, er rechnet seinen Schmerz dem Toten an, der ihn verursacht.«
Selten dürften sich diese drei Gedanken zum Tod so seltsam vermengen wie im Bestattungsrecht, mit dem ich während meines Rechtsreferendariats einige Wochen zwangsweise befasst war. Dabei ging es konkret meist um die Kosten von ordnungsbehördlichen Bestattungen. Das sind Bestattungen, die angeordnet werden, wenn keine Angehörigen bekannt sind, die sich um die Bestattung kümmern können oder wollen. In einer Stadt wie Hamburg sind das ziemlich viele, ungefähr 1.500 Bestattungen pro Jahr. Oft ging es dabei um Menschen, die in Armut und großer Einsamkeit ihre letzten Lebensjahre verbrachten. Einige von ihnen starben und wurden erst nach einer längeren Zeit in ihren Wohnungen gefunden, so richtig vermisst hatte sie offenbar niemand. Adorno schrieb weiter vom »als Takt rationalisiertes Vergessen« der Toten, und keine Formulierung kann den sich anschließenden juristischen Prozess besser beschreiben: Das detektivische Forschen der Behörden, ob sich nicht doch noch Angehörige finden ließen, um das Geld für die Bestattung einzutreiben. Wenn das Nachforschen erfolgreich war und die maschinell erstellten Zahlungsbescheide in den Briefkästen irgendwelcher entfernten Verwandten landeten, fielen diese meist aus allen Wolken, zumal auch eine einfache Bestattung ziemlich teuer ist. Dann kamen die oft wütenden Antwortschreiben, in denen wortreich beschrieben wurde, dass man mit der verstorbenen Person seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten gebrochen und aus gutem Grund keinerlei Kontakt mehr gehabt habe, ganz sicher nicht die Bestattung bezahlen werde, und so weiter. Manchmal fragte ich mich bei der Aktenlektüre in meiner Referendarskammer, ob der verstorbene Mensch in den letzten Jahren seines Lebens auch nur einmal so viel Aufmerksamkeit erfahren, so tiefe Gefühle verursacht hatte, wie sie die Zahlungsfrage seines Todes hervorrief.
Ohnehin spielt der Tod vor Gericht überwiegend dann eine Rolle, wenn es ums Geld geht. Wenn Adorno vom gestörten Verhältnis zu den Toten schreibt, die einbalsamiert und vergessen werden, dann ist dieser Gedanke offenbar zumindest lückenhaft: Vergessen wird nicht nach dem Einbalsamieren. Sondern nach der juristisch korrekten Endabrechnung. Dabei entstehen dann Urteile wie das des Amtsgerichts Kreuzberg, das im Jahr 2021 über die Kosten der Wohnungsreinigung zu entscheiden hatte, die durch den Tod des Mieters und den in den Tagen zwischen dem Ableben und dem Auffinden des Leichnams entstandenem Geruch erforderlich wurden. Der Vermieter verrechnete die Kosten mit der Wohnungskaution, die Erben klagten – und bekamen Recht. »Das Sterben in der gemieteten Wohnung und die Beeinträchtigung der Wohnung als Folge des Versterbens stellt keine Überschreitung des vertragsgemäßen Gebrauches dar«, urteilte das Gericht. Wenn man so will, also gute Nachrichten für alle Mieter*innen: Todesangst mag sich vielleicht in einem unerfüllten Leben begründen, aber in Sachen Vertragserfüllung ist alles bestens.
Ähnlich einfühlsam liest sich ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom letzten Jahr. Ein Flug war ausgefallen, weil der Co-Pilot tot im Hotelzimmer gefunden wurde. Einige Fluggäste klagten auf Ausgleichszahlungen, und auch sie bekamen recht. Der Tod des Piloten sei im Lichte der Fluggastrechteverordnung »kein außergewöhnlicher Umstand«, urteilte das Gericht. Vielmehr sei der Tod rechtlich wie Krankheit zu behandeln. Nur ein wenig endgültiger. Die Passagiere konnten also ganz gewöhnlich Ausgleichszahlungen verlangen. Und vielleicht ist das ja die größte Beleidigung am Tod: Dass die Welt sich ganz unverdrossen in aller Gewöhnlichkeit weiterdreht, einfach so, fast als sei nichts geschehen, von gelegentlichen Zahlungsstreitigkeiten mal abgesehen. Und bei denen wiederum möchte man Clemens Brentano entgegenhalten, dass das schlichte Vergessen manchmal vielleicht doch die würdevollere Variante gewesen wäre.