Das Jahr 1990
Aufgeblättert: »Das Jahr 1990 freilegen« herausgegeben von Jan Wetzel und anderen
Von Karin Zennig
1990 ist ein Jahr, in dem der revolutionäre Aufbruch von ´89 einen Dämpfer erhält. In dem durch die Treuhandpolitik die Deindustrialisierung des Ostens beginnt, die größte deutsche Massenstreikbewegung aber noch nicht begonnen hat. Ein Jahr, in dem der Westen noch hämisch auf den Osten schaut, bevor der neoliberale Durchmarsch auch diesen erreicht. 1990 ist das Jahr, in dem Mandela aus dem Gefängnis kommt, der zweite Golfkrieg beginnt und das schnurlose Telefon erfunden wird. Jan Wetzels Buch »Das Jahr 1990 freilegen« aber ist Gegenentwurf zur hegemonialen Erinnerung. Es ist ein Steinbruch. Dass jede Seite anders aussieht, ist nicht nur ein Layoutkonzept, sondern einer Vorstellung von nicht-stringenter Geschichte verpflichtet. Damit verbindet sich auch ein Auftrag für Linke: die Vielstimmigkeit von Geschichte freizulegen, nach Unerzähltem zu suchen. Ausgesprochen liebevoll sind in dem Buch Interviews, Pamphlete, Fragmente, Zitate kleiner und großer Geschichte collagiert. Es finden sich literarische Beschreibungen des Lebensgefühls und berührende biografische Skizzen von Personen, die Geschichte gemacht haben, und von solchen, denen sie passiert ist. Dabei funktioniert »Das Jahr 1990 freilegen« wie ein Bildband, den man an beliebiger Stelle aufschlagen kann. Die bemerkenswerten Fotografien zeichnen den Verlauf des Jahres, in dem die Macht der Leere weicht. Und auch sprachlich wird hier eine bestimmte Form des Sprechens eingefangen und konserviert, die mit 1990 aufgehört hat zu existieren.
Jan Wetzel u.a. (Hg): Das Jahr 1990 freilegen. Spector Books, Leipzig 2019. 591 Seiten, 36 EUR.