Tausend Tage Revolution
Vor 50 Jahren beendet ein Staatsstreich den »chilenischen Weg zum Sozialismus«
Von René Thannhäuser
Die Revolution beginnt an der Wahlurne. »Es war wie an Karneval«, erinnert sich eine chilenische Kommunistin später im Buch des amerikanischen Historikers Peter Winn über die chilenische Revolution. Am 4. September 1970 gewinnt Salvador Allende, der Kandidat des Linksbündnisses Unidad Popular (»Volkseinheit«, UP), die erste Runde der Präsidentschaftswahlen in Chile. Mit einem Stimmenanteil von 36,63 Prozent und einem Vorsprung von nur 40.000 Stimmen setzt sich Allende gegen den zweitplatzierten Kandidaten der traditionellen Rechten, der Nationalpartei (PN), durch.
Da Allende die absolute Mehrheit im ersten Wahlgang verfehlt, muss seine Wahl vom Parlament in einer zweiten Runde bestätigt werden. Zünglein an der Waage ist die von der katholischen Soziallehre geprägte zentristische Christdemokratie. Mit deren Stimmen wird Allende zum Präsidenten gewählt, nachdem sich die UP zur Verfassung, zu Grundrechten und Grundfreiheiten bekennt. Zum ersten Mal wird ein Marxist infolge freier Wahlen das Oberhaupt eines Staates.
Die UP hat ein ambitioniertes Regierungsprojekt vor Augen: den »chilenischen Weg zum Sozialismus«. Erstmalig soll in einem Land der Sozialismus nicht durch Waffengewalt in Folge einer Revolution oder eines Bürgerkrieges eingeführt werden, sondern über den parlamentarischen Weg.
Die Reaktion auf den ersten Schritt des revolutionären Wegs ist eindeutig: Die Börse von Santiago stürzt um 60 Prozent ab und Menschen stehen Schlange, um ihr Erspartes von ihren Bankkonten abzuheben. Allende werde Chile in ein neues Kuba verwandeln, ist sich die politische Rechte sicher. Bereits zwei Tage vor Allendes Wahl zeigt die Konterrevolution ihr militantes Gesicht: Der verfassungstreue Oberkommandierende der Streitkräfte, René Schneider, wird bei einem durch die CIA unterstützten Entführungsversuch durch die faschistische Gruppe Patria y Libertad erschossen. Der erhoffte Staatsstreich bleibt aus. Die Arbeitsteilung der seit Antritt der UP illoyalen rechten Opposition fasst der chilenische Publizist Alfredo Sepúlveda später wie folgt zusammen: »Patria y Libertad destabilisiert auf der Straße, die PN im Parlament.«
Für die Präsidentschaftswahlen von 1970 hatten die beiden großen Arbeiter*innenparteien, die Kommunistischen Partei (PC) und die Sozialistische Partei (PS) Allendes, ihr Bündnis geöffnet und mit progressiven Kräften des Bürgertums und linken Abspaltungen der Christdemokratie die Unidad Popular begründet. Deren Wahlprogramm hatte im Wesentlichen drei Ziele. Die Sozialpolitik umfasste ein 40-Punkte-Programm, das beispielsweise die Einführung kostenloser Schulbildung und die tägliche kostenlose Versorgung jedes Kindes mit einem halben Liter Milch vorsah. Die neokeynesianische Wirtschaftspolitik beinhaltete breite öffentliche Ausgaben, um die Konjunktur anzutreiben sowie strikte Preiskontrollen, um die Inflation einzudämmen. Zudem plante die UP die Einführung staatlichen und kollektiven Eigentums. Das bedeutete die Nationalisierung der Bodenschätze, insbesondere der Kupferminen, eine Agrarreform, um den Großgrundbesitz zu verteilen, und die Verstaatlichung aller Unternehmen mit einem Kapital von über einer Million US-Dollar.
Ein hoffnungsvoller Start
Von Beginn an existieren parallel zwei verschiedene revolutionäre Bewegungen. Einerseits gibt es die von der UP (Volksunion) initiierte »Revolution von oben«. Andererseits treibt die »Bewegung der revolutionären Linken« (MIR) ihre eigene Strategie voran, sobald die UP an die Macht kommt.
Während die UP eine reformorientierte Herangehensweise verfolgt, zielt die MIR auf den radikalen Umsturz der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung. Sie plante den bewaffneten Sturz der herrschenden Klasse und den Aufbau einer alternativen Machtstruktur. Obwohl die MIR das UP-Projekt nicht direkt unterstützte, stand sie ihm dennoch kritisch, aber solidarisch gegenüber. Im Gegensatz zu anderen linken Parteien wie der PC (Kommunistische Partei) und der PS (Sozialistische Partei), die vor allem in der Industriearbeiterschaft verwurzelt waren, hat die MIR eine breitere Basis. Sie ist nicht nur bei Landarbeiter*innen, sondern auch in städtischen Armenvierteln und teilweise unter der indigenen Bevölkerung der Mapuche vertreten.
Anhänger*innen der MIR besetzen Land im urbanen und ländlichen Raum, das nach den aktuellen Regierungsreformen nicht oder noch nicht zur Umverteilung vorgesehen ist.
Und das Kalkül geht auf: Die »Genossen in Regierungsgewalt« tolerieren die Aktionen oder legalisieren sie sogar nachträglich. So kommt es in kurzer Zeit zu Hunderten extralegalen Landbesetzungen. Emblematisch wird die von MIR-Anhänger*innen auf besetztem Land gegründete selbstorganisierte Wellblechhüttensiedlung Neu Havanna in Santiago.
Der Bedrohung durch die ländliche Revolution von unten wurde durch eine Intensivierung von oben begegnet.
Peter Winn
Die Regierung, so der amerikanische Historiker Peter Winn, reagiert paradox: »Der Bedrohung durch die ländliche Revolution von unten wurde durch eine Intensivierung von oben begegnet.« Innerhalb von eineinhalb Jahren vollzieht sich so eine der schnellsten Landreformen der Geschichte, die den seit der Kolonialzeit bestehenden Großgrundbesitz beendet. Zhou Enlai, der Premierminister der Volksrepublik China, warnt Allende sogar vor einem zu schnellen Fortschreiten der Landreform.
Doch auch unter Anhänger*innen der UP beginnt die »Revolution von unten«: Die Arbeiter*innen des Textilunternehmens Yarur, einer UP-Hochburg, besetzen am 26. April 1971 das Werk und fordern die Regierung auf, es zu verstaatlichen. Obwohl dies zu dem Zeitpunkt noch nicht vorgesehen ist, kommt die Regierung der Forderung nach.
In diesen Basisbewegungen zeigt sich, was sich bald als Poder Popular (»Volksmacht«) materialisieren würde: eine revolutionäre Gegenmacht, die teils gegen die Führungen der linken Organisationen agiert und deren Formen bricht und überschreitet.
Das erste Regierungsjahr der UP wird ein voller Erfolg: Das Wirtschaftswachstum ist so hoch wie seit 1950 nicht mehr, die Beschäftigung erreicht ein Rekordniveau und die Reallöhne wachsen um 22 Prozent. Die Preiskontrollen ermöglichen Armen den Zugang zu zuvor unerreichbaren Waren und die Mittelklassen feiern regelrechte Konsum-Feste. Am 4. April 1971 erhält die UP bei den Kommunalwahlen fast 50 Prozent der Stimmen. Intern sehen sich viele bestätigt und fordern eine Beschleunigung der »Revolution von oben«.
Doch am 8. Juni erschießt eine linksradikale Gruppe den ehemaligen christdemokratischen Minister Pérez Zújovic. Die Christdemokraten, die einige der ersten Regierungsprojekte unterstützt hatten, schwenken dauerhaft zur rechten Opposition der PN über. Abgesehen von punktuellen Kooperationen wird die UP im Parlament keine Mehrheiten mehr organisieren können. In der Retrospektive ist klar, dass der »chilenische Weg zum Sozialismus« politisch de facto jetzt schon am Ende ist.
Der Zerfall setzt ein
Ab Ende 1971 beginnen die Anfangserfolge des keynesianischen Konjunkturprogramm in ihr Gegenteil umzuschlagen. Die Regierung hat die Geldmenge im Umlauf verdoppelt. Entgegen aller Erwartungen haben die Enteignungen auf dem Land und die Gründung landwirtschaftlicher Genossenschaften nicht zu einer erhöhten Produktion geführt. Die Inflation erreicht dreistellige Werte und wächst rasant weiter. Lebensmittel werden knapp und ein Schwarzmarkt beginnt zu florieren.
Peter Winn beschreibt die Stimmung in Chile von 1972 als die eines »unerklärten Bürgerkriegs«. Im Oktober 1972 treten Spediteure und Busunternehmer in einen Generalstreik. Diesem schließen sich weite Teile der Ober- und Mittelklassen an: Einzelhändler*innen schließen ihre Läden, Eigentümer*innen ihre Unternehmen, Facharbeiter*innen und höhere Angestellte in Staatsunternehmen erscheinen nicht zur Arbeit. Weite Teile des Landes stehen still. Dieser »Streik der Arbeitgeber« hat das Potenzial, die Regierung zu Fall zu bringen und wird von Teilen der Regierung als ein Putschversuch gewertet. Die UP entscheidet, zur Beschwichtigung der rechten Opposition Militärs ins Kabinett aufzunehmen. Der Streik endet nach einem Monat.
Der Poder Popular beginnt zu einer Garantie für das Überleben und gleichzeitig zu einer Bedrohung für die Regierung zu werden.
Einen frühen Fall der Regierung verhindert auch die spontane Initiative von unten, der Poder Popular. Überall im Land übernehmen Arbeiter*innen geschlossene Fabriken, organisieren mit beschlagnahmten Bussen und Transportern die Infrastruktur und schieben Extraschichten. Bereits im Juni hatten Arbeiter*innen im Industriegürtel von Cerrillos am Stadtrand von Santiago den ersten »Cordón Industrial (»Industrie-Gürtel«) gegründet. In diesem schlossen sich Arbeiter*innen, Bäuer*innen und Anwohner*innen in sogenannte Cordones territorial zusammen, um Produktion, Distribution und Selbstschutz zu organisieren. Diese Rätestrukturen sprengen die organisatorischen Grenzen der wenig erfreuten Gewerkschaften. Für die Akteur*innen hingegen sind sie Keime einer chilenischen Sowjetmacht. Im Zuge des Oktoberstreiks kommt es zur Gründung zahlreicher weiterer Cordones. Bestehende Cordones integrieren neu kollektivierte Betriebe ohne offizielles Verstaatlichungsdekret in ihre Strukturen. Der Poder Popular beginnt zu einer Garantie für das Überleben und gleichzeitig zu einer Bedrohung für die Regierung zu werden. Die rechte Opposition beginnt von einer geheimen Bewaffnung des Poder Popular zu schwadronieren.
Uneinigkeit in der UP
Mit dem Oktoberstreik werden auch die inneren Widersprüche und gegensätzlichen Strategien der UP vollauf sichtbar, die im Gegensatz von »fortschreitendem Konsolidieren« und »konsolidierendem Fortschreiten« diskutiert werden. Der legalistische Flügel der UP, vor allem repräsentiert durch die PC und Salvador Allende, lehnt einen verselbständigten Poder Popular als Gefahr für das Bündnis mit den Mittelklassen ab. Um der gesellschaftlichen Polarisierung entgegenzuwirken, müssten die bisherigen Erfolge der revolutionären Regierung gefestigt werden. Der revolutionäre Flügel, insbesondere die Mehrheit der PS, begrüßt den Poder Popular immer deutlicher und nähert sich Positionen der MIR an. Aus der PS werden Stimmen immer lauter, die zur Volksbewaffnung und dem gewaltsamen Sturz der Bourgeoisie aufrufen. Nachdem die UP im Parlament keine Mehrheiten finden kann, ist sie kaum noch in der Lage, einstimmige Entscheidungen zu treffen.
Die Parlamentswahlen vom März 1973 sollen eine Entscheidung herbeiführen, doch bestätigen das Patt im Parlament. Die politische Gewalt auf den Straßen und der Terror der Patria y Libertad eskalieren immer mehr. Am 29. Juni putscht dann ein Teil der Streitkräfte und rückt mit Panzern bis vor den Präsidentenpalast vor. Regierungstreue Truppen schlagen den Putschversuch jedoch nieder. Seitdem ist nicht nur das Schreckgespenst des Staatsstreichs, sondern auch dass des offenen Bürgerkriegs eine reale Möglichkeit. Der verfassungstreue Oberkommandierende General Carlos Prats legt am 23. August sein Amt nieder, nachdem er in der Führung der Streitkräfte keine Mehrheit mehr für seinen Kurs findet. Seinem Freund Salvador Allende schlägt er einen »vorbildlichen Soldaten« als seinen Nachfolger vor: Augusto Pinochet.
Im Morgengrauen des 11. September schlagen die Streitkräfte unter Pinochets Oberkommando zu. Allende eilt zum Präsidentenpalast und hält um 09.10 Uhr eine letzte Rede für das Radio. Er ruft nicht zum bewaffneten Widerstand oder zu einem Aufstand auf, sondern bringt vielmehr seine Enttäuschung über den Verrat und den Verfassungsbruch der Putschisten zum Ausdruck. Nachdem er sein Gefolge zur Kapitulation auffordert, erschießt sich Allende gegen 14.20 Uhr mit einer AK-47, die ihm Fidel Castro einst geschenkt hatte. Vereinzelter bewaffneter Widerstand in den Cordones Industriales und den Armenvierteln hält bis zum nächsten Tag an. Doch die Brutalität, mit der die Streitkräfte die Linke und zugleich das demokratische System zerschlagen, hatte kaum jemand erwartet.
Bis zu 4.000 Tote, 35.000 Gefolterte, fast 1.500 bis heute Vermisste und bis zu einer Million Exilant*innen fordert die Militär-Diktatur, die bis 1990 andauern wird. Die Unidad Popular ist vor allem für den Staatsstreich, der ihr gewaltsames Scheitern markiert, in Erinnerung geblieben. Doch genau so verdienen es ihre Erfolge erinnert zu werden. In den knapp 1.000 Tagen, die ihre Revolution andauerte, hat die chilenische Linke die Dialektik von Reform und Revolution so weit getrieben, wie es nie davor und nie danach geschah. Jedes ernsthafte Projekt sozialistischer Gesellschaftstransformationen muss sich dieser Erfahrung stellen und sich an ihr messen lassen.