Individuelle Freiheit und Rebell*innen
Aufgeblättert: »Aspekte des libertären Autoritarismus« von Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey
Von Sebastian Klauke
Der Band ist ein Bestseller und wird links wie rechts breit rezipiert. Er ist Bestandteil des Selbstbeobachtungsprozesses über den gesellschaftlichen Zustand und aufgrund der zugrunde liegenden Interviews im Alltag verwurzelt. Er ist nicht frei von Verkürzungen und Schwächen, die es zu diskutieren gilt, als anregende und grundlegende Lektüre jedoch empfehlenswert. Die Autor*innen schließen in ihrer Analyse an die Untersuchungen der Kritischen Theorie zum autoritären Charakter an. Wichtigster Unterschied in den Ergebnissen ist, dass es derzeit im untersuchten Milieu kaum noch eine Sehnsucht nach einer führenden Person gibt, der es sich unterzuordnen gilt. Ganz im Gegenteil: Der Typus des »Rebellen«, der gegen jegliche Autorität ist, der auf die eigene Freiheit bedacht ist, ohne die strukturellen Gegebenheiten und Abhängigkeiten mitzudenken oder anzuerkennen, ist dominant. Als Erklärung gehen die Verfasser*innen von einer Kränkung aus, die darauf zurückzuführen ist, dass die Menschen eben mit einer komplexen Gesellschaft konfrontiert sind, die die vermeintliche individuelle Freiheit gerade in Krisensituationen beschränkt. Nicht ausreichend reflektiert wird das Problem des Verhältnisses der Linken zum Staat und den kapitalistischen Verhältnissen, gerade in Zeiten einer politisch bearbeiteten Pandemie. In der aktuellen Gesellschaftsanalyse wird Poulantzas autoritärer Etatismus zu schnell verabschiedet, Fragen der Hegemonie stellen sich nur indirekt. Das komplexe Ganze gerät nicht so recht in den Blick.
Carolin Amlinger, Oliver Nachtwey: Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus. Suhrkamp, Berlin 2022. 480 Seiten, 28 EUR.