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|ak 689 | Geschichte

Marx mit Lücke

Das Buch »Die Diversität der Ausbeutung« präsentiert eine marxistische Analyse von Rassismus, doch die geht oft nicht auf

Von Vincent Bababoutilabo

Eine Demonstration reckt geschlossen die rechte Faust in die Höhe
Wer die antirassistischen Kämpfe nicht sieht, kann Rassismus nicht komplett analysieren. Black-Lives-Matter-Protest 2020 in London. Foto: Socialist Appeal / Flickr, CC BY 2.0

Die Präsentation des Buches von Eleonora Roldán Mendívil und Bafta Sarbo war ein voller Erfolg. Hunderte Menschen drängten sich in den Saal der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Die Aussagen der Herausgeber*innen wurden von lautem Applaus begleitet, nur eine der frühen Folien der Power-Point-Präsentation sorgte unter meinen Sitznachbar*innen für Unruhe: »Der Marxismus ist allmächtig, weil er wahr ist.« Dieses Zitat von Lenin schwebte über unseren Köpfen und eröffnet auch das Buch selbst. Die Publikation versammelt unterschiedliche Beiträge, die ein wichtiges Gegengewicht zu liberalen Antirassismus-Debatten darstellen. Der allmächtige marxistische Sammelband beinhaltet allerdings auch einige Lücken.

Die Kämpfe fehlen

Kämpfe gegen Rassismus, Imperialismus und Kolonialismus spielen im Buch so gut wie keine Rolle. Dabei haben sie immer die Entwicklung des Rassismus in Deutschland beeinflusst. So wie es Arbeitskämpfe sind, welche kapitalistische Entwicklungen erzwingen, so verändert sich auch Rassismus angesichts der ihm entgegengesetzten Kämpfe.

Der Historiker Felix Axster weist darauf hin, dass sich vor dem Ausbruch der antikolonialen Kriege noch viele Stimmen finden ließen, die sich positiv für Ehen mit kolonisierten Frauen aussprachen. Radikal änderte sich dies im deutschen Diskurs und in der kolonialrassistischen Praxis mit den aufkommenden antikolonialen Kämpfen. Es kam zu einem Verbot von »Mischehen«. 1905 in Deutsch-Südwestafrika, wo am 12. Januar 1904 die Angriffe auf koloniale Einrichtungen begannen. 1906 in Deutsch-Ostafrika, im Zuge des Maji-Maji-Aufstandes. 1912 fällte das Obergericht in Windhuk, getrieben von der Angst vor Aufständen, ein radikales Urteil: »Es muss jeder, dessen Stammbaum väterlicherseits oder mütterlicherseits auf einen Eingeborenen zurückgeführt werden kann, selbst als Eingeborener behandelt werden. Auf den Grad der Blutsverwandtschaft mit den Eingeborenen kommt es nicht an.« Deutsch-Sein sollte mit Weißsein verknüpft werden. Das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes (RuStAG) von 1913 etablierte bezüglich der deutschen Staatsbürgerschaft das Abstammungsprinzip. Dieses gilt noch heute und wurde erst im Jahre 2000 durch das Geburtsortsprinzip ergänzt.

Der Mythos vom Bruch

Aber Deutschlands Rassismus speist sich nicht nur aus der Kolonialpolitik in Afrika. Er diente auch der nationalen, antisemitischen Abgrenzung in Bezug auf Osteuropa. So wurde etwa 1885 vor einer »Polonisierung Deutschlands« gewarnt und eine Massenabschiebung durchgesetzt, die 40.000 Pol*innen betraf. In dem Buch »Wessen Erinnerung zählt?«  kommt Mark Terkessidis zu dem Schluss, dass sich die imperiale Perspektive Deutschlands von der anderer westlicher Großmächte unterschied. Der deutsche Expansionsdrang gegenüber Osteuropa kann Terkessidis zufolge durchaus als imperiales, wenn nicht gar koloniales Projekt gefasst werden. Es hätte dem Sammelband gut getan, diese Perspektive mit aufzunehmen.

So wie es Arbeitskämpfe sind, welche kapitalistische Entwicklungen erzwingen, so verändert sich auch Rassismus angesichts der Kämpfe gegen ihn.

Die Expansion nach Osten war auch ein Projekt des historischen Nationalsozialismus. Seine Kontinuitäten werden im Sammelband übersprungen. Damit folgen die Herausgeber*innen dem Mythos eines Bruchs mit dem NS, den viele liberale antirassistische Publikationen reproduzieren. Der Elefant im Raum ist die Vernichtung jüdischen Lebens, allerdings kann auch eine Analyse kommender Migrationsbewegungen und Ausbeutung migrantischer Arbeiter*innen in der BRD nationalsozialistische Kontinuitäten nicht ignorieren.

Die Historikerin Maria Alexopoulou beschreibt in ihrem Buch »Deutschland und die Migration« die Situation migrantischer Arbeiter*innen im NS. Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurden ausländische Arbeitskräfte zu einem Massenphänomen in Deutschland. Bereits 1938 wurden erste Anwerbeabkommen zwischen dem faschistischen Italien und Deutschland geschlossen. Dies stellte sich jedoch als wenig erfolgreich heraus, und so setzte man in Deutschland auf Zwangsverpflichtungen. Im Laufe des Krieges arbeiteten über 13 Millionen Zwangsarbeiter*innen in Deutschland, wo sie ein sichtbarer Teil des Alltagslebens waren. Acht Millionen von ihnen kamen aus dem Ausland, die große Mehrheit aus Osteuropa.

Die nationalsozialistische Regierung versuchte neben Lagerunterbringung und schierer physischer Gewalt, auch anhand von Poster-, Radio- und Filmkampagnen die Isolation der Zwangsarbeiter*innen durchzusetzen. Die deutsche Mehrheitsgesellschaft zeigte sich teilweise ähnlich pikiert wie später bezüglich der Gastarbeiter*innen. Man fühle sich in den Straßen nicht mehr sicher, die Ausländer*innen seien zu frech, unsauber, faul und besonders vor den Italienern müsse die deutsche Frau in Schutz genommen werden. In den 40ern wurden »Schulungen zur Kriegswichtigkeit der Ausländer« in ganz Deutschland durchgeführt. Das Ziel war es, das Verhalten der Bevölkerung vor allem gegenüber den Italienern zu verbessern. Der Nationalsozialismus schuf so seine eigene rassistische Migrationsdebatte auf Folie der Zwangsarbeit.

Rein juristisch wurden die rassistischen Gesetze der Nazis nach 1945 aufgehoben, und die BRD orientierte sich als liberale Demokratie an den USA. Deutschland blieb aber ein Land, in dem angebliche Abstammung Teil der Politik war und ist.

Wo bleibt die DDR?

Das oben erwähnte Zitat Lenins, welches die Allmacht der marxistischen Lehre beschwört, war in der DDR ein beliebtes Motto auf Postkarten oder Bannern. Die Geschichte des realsozialistischen Landes stellt eine weitere Lücke im Sammelband dar. Das mag daran liegen, dass fast die gesamte marxistisch geprägte, deutschsprachige antirassistische Literatur hier eine Leerstelle aufweist. Die DDR, ein Land, in dem es Rassismus gab und die Produktionsmittel nicht in Privatbesitz waren, gerät erst in letzter Zeit in den Fokus antirassistischer Analysen. Viele Menschen in der heutigen BRD sind vor allem in der DDR sozialisiert. Insbesondere der Rassismus in Ostdeutschland lässt sich demnach nur bedingt mit einer westdeutschen Gesellschaftsgeschichte erklären.

Die sogenannte Gastarbeit in der BRD war ein europäisches Projekt. Wie in der Epoche des Kaiserreichs, waren Migrant*innen aus den ehemaligen Kolonien nach 1945 unerwünscht. Anders war dies in der DDR, wo Vertragsarbeiter*innen aus ehemals kolonisierten Ländern angeworben wurden.

»Rassenhass« war im Arbeiter- und Bauernstaat laut Verfassung verboten. Gemäß der Dimitroffschen Faschismusanalyse galt Rassismus als abgeschafft, weil ihm mit der Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise schlicht die ökonomische Grundlage fehlte. Trotzdem hatte der realsozialistische Staat eine eigene Realität von Ausgrenzung und Rassismus. Als die ersten nennenswerten Migrationsbewegungen junger Fachkräfte die DDR erreichten, sahen sie sich mit umfangreichen, restriktiven Regeln und gesellschaftlicher Abschottung und Alltagsrassismus konfrontiert. Familienzusammenführungen sowie die Mitgliedschaft in Parteien und Vereinen der DDR waren untersagt. Sie wohnten in betriebseigenen Wohnheimen und waren meist strikt von der deutschen Bevölkerung getrennt. Bei Vertragsende, Schwangerschaft oder politischen Aktivitäten drohte die Abschiebung. Auch eine Selbstorganisation außerhalb der staatlich-formellen Organisationen war grundsätzlich verboten.

Trotz der Segregation, der umfassenden Kontrolle und der harten Arbeitsbedingungen ist die Geschichte der Migrant*innen in der DDR auch eine Geschichte der Kämpfe. Für den Zeitraum von 1960 bis 1972 soll es insgesamt 900 Arbeitsniederlegungen gegeben haben. Andere Streiks wurden mit der Androhung und Durchführung von Abschiebungen gebrochen und von rassistischen Attacken begleitet, denn die »Klassengemeinschaft«, so schreibt Patrice Poutrus, war zuallererst eine nationale Gemeinschaft der DDR-Deutschen.

Leerstellen schließen

Die Buchpräsentation endete mit tosendem Applaus. Zu Recht, denn trotz der beschriebenen Lücken ist der Sammelband lesenswert. Das erwähnte Zitat Lenins geht wie folgt weiter: »(Die Lehre von Marx) ist in sich geschlossen und harmonisch, sie gibt den Menschen eine einheitliche Weltanschauung, die sich mit keinerlei Aberglauben, keinerlei Reaktion, keinerlei Verteidigung bürgerlicher Knechtung vereinbaren läßt.« Die in diesem Zitat anklingende orthodoxe Auslegung marxistischer Lehre kann ein Grund für die blinden Flecken des Sammelbands sein. Das wäre schade. Vielleicht sind die Leerstellen auch lediglich der Banalität der praktischen Arbeit an einem Sammelband geschuldet. Wie dem auch sei: Es ist wichtig sie, zu schließen, um die begonnene materialistische Analyse von Rassismus in Deutschland zu vertiefen.

Anmerkung:

Der Sammelband »Die Diversität der Ausbeutung« wurde in ak 686 von Erkut Bükülmez besprochen. Mit den Thesen des Buches setzte sich Klaus Viehmann in einem Debattenbeitrag in ak 688 kritisch auseinander. Nun folgt dieser Beitrag von Vincent Bababoutilabo. Die Debatte zu den Thesen des Buches soll an dieser Stelle weitergeführt werden.

Vincent Bababoutilabo

ist ein in Berlin lebender Musiker, Autor und Aktivist an der Schnittstelle zwischen Kunst und Politik.

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