Brixton vor dem Aufstand
Einer der bedeutendsten Riots Großbritanniens drehte sich 1981 um Polizeigewalt. Doch es ging um mehr
Von Darcus Howe
In Brixton, einem Londoner Arbeiterviertel, kam es vor 40 Jahren zu mehrtätigen Auseinandersetzungen zwischen der Schwarzen Jugend und der Polizei, die schon bald das ganze Land erfassten. Mit dabei war das Kollektiv Race Today, eine Zeitung aus der Community, die als Chronistin Schwarzer Bewegungen gilt. Um den Aufstand zu verstehen, blickte der Aktivist und Journalist Darcus Howe 1982 auf das Jahrzehnt vor dem Aufstand, das geprägt war von radikalen Organisierungsversuchen und Polizeigewalt.
Die Revolte der jungen Schwarzen in Brixton gegen die Polizei begann nicht erst, als die Medien und der Rest Großbritanniens diese am 10. April 1981 wahrnahmen. In den vorausgegangen zehn Jahren hatten sich junge Schwarze kleinere Scharmützel mit der lokalen Polizei geliefert sowie Proteste und gewalttätige Konfrontationen in Jugendclubs und anderen sozialen Treffpunkten organisiert. Vieles davon fand unbeachtet von der übrigen britischen Gesellschaft statt, oft unaufgezeichnet, außer als sensationalistische, einmalige Ereignisse, die nur als vulgäre Propaganda für das Image der britischen Polizei diente.
Der 22. November 1970 markierte einen bedeutenden Wendepunkt in diesem Kampf. Ein afrokaribischer Mann mittleren Alters namens Joshua Francis, der bei London Transport arbeitete und in Brixton lebte, erlebte an diesem Tag eine brutale Unterbrechung seiner Alltagsroutine. Vier weiße Männer, einer von ihnen ein Polizist außer Dienst, stürmten in sein Haus und überfielen ihn; seine Wunden mussten mit 30 Stichen genäht werden. Die Polizei von Brixton kam, verfrachtete Francis auf die Polizeiwache von Brixton und verklagte ihn wegen eines Angriffs auf drei Polizisten.
Die westindische Community hatte bis dahin eine gängige Praxis im Umgang mit Ereignissen dieser Art: Sie suchte den Rat lokaler Freiwilligenorganisationen, des Citizens Advice Bureau (ein Hilfsverein, Anm. ak) oder des örtlichen Pfarrers. Joshua Francis brach mit dieser Praxis und verfolgte einen neuen Kurs, unterstützt von Mitgliedern der Black-Panther-Bewegung, die einige Jahre zuvor in Brixton von jungen Schwarzen gegründet worden war. Die Mitglieder waren überwiegend Arbeiter*innen und ein paar Intellektuelle. Sie kämpften gegen polizeilichen Machtmissbrauch und gaben eine Zeitung heraus, die eine radikale Haltung in dieser Frage vertrat. Sie verteilten ihre Zeitungen von Tür zu Tür und in Einkaufszentren, hielten öffentliche Versammlungen ab, verkauften radikale und revolutionäre Literatur, demonstrierten und agitierten in dem Bemühen, die Öffentlichkeit in Sachen Polizeipraxis zu sensibilisieren.
In dieser Hinsicht waren die Panther eine Alternative zu den öden und verbrauchten Ansätzen, die die vorangegangene Ära charakterisierten. Joshua Francis legte seinen Fall in ihre Hände, und sie begannen sofort, eine Kampagne für ihn zu organisieren. Es war vielleicht eine der ersten Kampagnen dieser Art in der Geschichte der Kämpfe zwischen den Schwarzen und der Polizei von Brixton.
Infolgedessen entstanden in fast allen Schwarzen Communities des Landes Gruppen nach dem Vorbild der Panthers. Diese vereinigten sich auf der Nationalen Konferenz für die Rechte der Schwarzen, die im Frühjahr 1971 im Alexandra Palace stattfand und an der mehr als 800 Vertreter*innen verschiedener Organisationen teilnahmen. In einem Zeitraum von sechs Jahren hatte die Bewegung ihren Höhepunkt erreicht.
Zuckerbrot und Peitsche
Infolge der Jugendrevolte erlebte die Schwarze Community von Brixton alsbald die Reaktion des Staates. Zunächst die Peitsche. Panther-Mitglieder wurden von der Polizei in Brixton massiv schikaniert. Sie wurden festgenommen, als sie ihre Literatur verkauften und Flugblätter verteilten; ihr Hauptquartier und ihre Fundraising Events wurden mit Razzien überzogen; sie wurden verhaftet und wahllos angeklagt, während sie ihre Kampagnen fortsetzten. Am Vorabend der Konferenz über die Rechte der Schwarzen Bevölkerung stürmten Beamte das Hauptquartier der Panthers in Brixton und durchwühlten wahllos Unterlagen. Monatelang waren die Panthers in Gerichtsverfahren verwickelt, die nicht einmal vor Unterstützer*innen und Familienangehörigen Halt machten. Diese Repression, die sich überall, wo lokale Gruppen gegründet worden waren, ausbreitete, schwächte die Organisationen: Die Mitgliederzahl sank, neue Rekrut*innen waren schwer zu finden und die enthusiastische Unterstützung verblasste zu passiver Sympathie.
Dann kam das Zuckerbrot. Die Regierung ließ kleine Geldsummen in die Schwarzen Communities tröpfeln, um, wie es hieß, die Probleme junger Schwarzer zu lindern. Bis 1973 brachen die ohnehin schon geschwächten Black-Power-Organisationen wegen des Ansturms auf die Regierungsgelderzusammen. Junge Kader, die einst die Panthers angeführt hatten, versammelten sich nun um staatlich finanzierte Projekte. Die einst eigenständigen und politisch lebendigen Organisationen wurden in Wohlfahrtsorganisationen verwandelt.
Zur gleichen Zeit war die britische Elite damit beschäftigt, die koloniale Form, in der die Schwarze Bevölkerung gefangen gehalten wurde, weiter zu reformieren. Für die Polizei, die in unseren Gemeinden Wache hielt, um für Gehorsam, Ordnung und Disziplin zu sorgen, stand zunächst eine technologische Revolution an. Sie wurde mit einer Vielzahl neuer Geräte zur Überwachung ausgestattet. Neue Polizeistationen ersetzten die traditionellen Gebäude. Bürokratie und Rechtsprechung erweiterten zudem die polizeilichen Befugnisse. Die Association of Chief Constables, ein Verein jener Feudalbarone, die Großbritanniens Polizei leiteten, übte auf eine Art Macht und Autorität aus, die an Verfassungswidrigkeit grenzte. In Komitees hinter verschlossenen Türen in Whitehall (Regierungsviertel, Anm. ak) forderte und bekam sie von der Regierung buchstäblich alles, was sie wollte. Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass eine große Zahl junger Schwarzer kaum Kontakt mit anderen Teilen der britischen Gesellschaft hatte, außer mit der Polizei und den Gerichten.
Die Enthüllungen über die Polizeikorruption bestätigten nur das, was die Schwarzen Communities sowieso erlebten.
Die uneingeschränkte Handlungsfreiheit der Polizei hatte zusammen mit der technologischen Revolution katastrophale Folgen innerhalb der Sicherheitsbehörden selbst: Die internen Strukturen wurden ausgehöhlt, und der daraus resultierende Mangel an Kontrolle stürzte die Polizei in die Korruption. Zwischen 1969 und 1972 wanderten eine ganze Reihe von Londoner Detectives in den Knast, und Hunderte weitere verließen die Polizei in Unehre. Selbst der konservativste Fanatiker könnte nicht leugnen, dass dies nur die Spitze des Eisbergs war. Eine ganze Drogen-Eliteeinheit erschien auf der Anklagebank im Old Bailey (Zentraler Strafgerichtshof in London, Anm. ak), als ein Drogenring, bestehend aus Polizeibeamten und Schwarzen Drogenhändlern, aufgedeckt wurde. Es verging kein Monat, in dem nicht gegen irgendeine Polizeieinheit des Landes ermittelt wurde. 1980 liefen fast sieben solcher Ermittlungen gleichzeitig. Und die verabscheuenswürdigste Korruption von allen brachte die Operation Countryman ans Licht, die Ende 1978 die Komplizenschaft von Londoner Kriminalbeamten bei Bankraub, Erpressung und Mord offenlegte. Die Korruption ging bis zum Co-Vorsitzenden der Polizei. All das geschah vor den Augen der Schwarzen Communities, für die die Enthüllungen über die Polizeikorruption nur das bestätigten, was sie sowieso erlebten.
Die Revolte bleibt lebendig
In der Zwischenzeit fanden mehrere tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen statt. Die Verschärfung der wirtschaftlichen Rezession ließ die Zahl arbeitsloser junger Schwarzer in die Höhe steigen. Ihre Anwesenheit auf den Straßen verschärfte den Konflikt zwischen ihnen und der Polizei. Die bloße Existenz der (staatsfinanzierten, Anm. ak) Projekte weckte in der Schwarzen Gemeinschaft Erwartungen, die jedoch enttäuscht wurden, weil die Projekte keinerlei Veränderung brachten. So entstand ein explosive Mischung, die sich von Zeit zu Zeit in offener Gewalt entlud.
Die Revolte in Brixton war heftig. Am Abend des 19. Juni 1973 gerieten junge Schwarze auf der Brockwell Park Fair mit der Polizei aneinander. Flaschen, Steine, jedes verfügbare Geschoss wurde geworfen. Die Polizei rief nach Verstärkung, die jungen Schwarzen auch. Der Kampf tobte eine halbe Stunde lang. Die Polizei griff sich, wen sie konnte. Innerhalb weniger Wochen kam es zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen jungen Schwarzen und der Polizei im Railton Jugendklub. Dann, im September 1974, nahmen es junge Schwarze erneut mit der Polizei auf, zuerst in der Swan Disco und dann rund um die Stockwell U-Bahn-Station. Im Juni 1976 marschierten wieder fast 100 Schwarze spontan zur Polizeistation von Brixton, nachdem ein Westinder mittleren Alters zu Unrecht in der Railton Road verhaftet worden war.
Die britische Regierung hatte nur eine Antwort auf dieses Phänomen, das sich in mehreren Schwarzen Gemeinden landauf, landab reproduzierte: Auf die Zusammenstöße folgten polizeiliche Ermittlungen. Die Akten wurden an die Staatsanwaltschaft geschickt, die daraufhin Anklage wegen Aufruhr und Krawall erhob. Die staatsfinanzierten Projekte saßen an einem Fall nach dem anderen und führten junge Schwarze durch ein Labyrinth von Gerichtsverfahren. Ihre Freund*innen, Eltern und Verwandten waren passive Zuschauer*innen im Zirkus der Anwälte. Das Selbstvertrauen und die soziale Entwicklung, die eine Beteiligung an politischen Kampagnen mit sich bringt, wurden den jungen Schwarzen und ihren Eltern verwehrt. Das wiederum führte vor allem junge Schwarze in die Gewalt der Verzweiflung.
Erst nach dem New Cross Fire 1981, bei dem 13 junge Schwarze ums Leben kamen, nahm die politische Kampagnenarbeit wieder die zentrale Position ein, die sie die in den Tagen der Panthers und anderer ähnlicher Gruppierungen gehabt hatte. Der Enthusiasmus und die Begeisterung, mit der sich die Schwarze Gemeinschaft zu Tausenden am Black People’s Day of Action, dem 2. März 1981, versammelte, zeigte, wie sehr sie von den Projekten daran gehindert worden waren, sich politisch auszudrücken. Endlich waren sie frei. Die Form war wieder einmal aufgebrochen.
Übersetzung und Kürzung: Paul Dziedzic
Darcus Howe: Bobby to Babylon: Brixton before the Uprising, Februar 1982, in Paul Field, Robin Bunce, Leila Hassan, Margaret Peacock (Hg): Here to stay, here to fight: A Race Today Anthology. Pluto Books, London 2019. 304 Seiten, 17,99 Pfund.