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|ak 667 | Geschichte

Ermittlungen wie beim NSU

Seit 25 Jahren ist der tödliche Anschlag auf eine Geflüchtetenunterkunft in Lübeck unaufgeklärt

Von Christoph Kleine

Das Gebäude in der Hafenstraße 52 nach dem Anschlag. oto: Stephan Grimm / Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0

Der Lübecker Brandanschlag vom 18. Januar 1996 gehört in eine Reihe mit den Taten des NSU und den Morden von Hanau. Eigentlich. Denn heute erinnern sich außerhalb der betroffenen Communities und der antirassistischen Bewegung nur noch wenige daran, dass die Asylunterkunft in der Hafenstraße 52 komplett ausbrannte und zehn Menschen getötet wurden. Die Hansestadt Lübeck richtet zum 25. Jahrestag kein angemessenes Gedenken aus, sondern überlässt dies, wie meistens in den vergangenen Jahren, den Aktivist*innen des Lübecker Flüchtlingsforums.

Der bis dahin folgenschwerste rassistische Anschlag in der Geschichte der Bundesrepublik spielt im öffentlichen Gedächtnis kaum eine Rolle. Das ist kein Zufall. Eine lange Reihe von Pannen, Vertuschungen und Verfälschungen durch Polizei und Staatsanwaltschaft hat damals dafür gesorgt, der Empörung und dem Ruf nach Konsequenzen die Spitze zu nehmen. Die Ermittlungsbehörden taten praktisch alles dafür, dringend tatverdächtige Neonazis zu entlasten und die Brandstiftung stattdessen einem Geflüchteten, der selbst verletzt vom Dach des brennenden Hauses gerettet wurde, in die Schuhe zu schieben.

Den Aussagen der überlebenden Geflüchteten wurden wenig Glauben und noch weniger Beachtung geschenkt. Statt von den naheliegenden Motiven, nämlich Rassismus und Naziideologie, auszugehen, dachten sich die Ermittler*innen die fantastischsten und unglaubwürdigsten Theorien aus, spekulierten über Streit zwischen den Hausbewohner*innen und Rachegedanken. Die Sensationspresse – setzte noch einen drauf und verbreitete erfundene Geschichten über Drogen und Prostitution. Besonders unrühmlich damals die Illustrierte Stern – es muss nicht immer Springer sein.

Es war schon 1996 dasselbe Muster, das sich im NSU-Komplex wiederholen sollte. Ein institutionell rassistischer Sicherheitsapparat beschuldigt Angehörige und lässt die faschistischen Täter*innen gewähren – teils aus Blindheit, teils aus bösem Willen. Solange sie funktioniert, ist die Täter-Opfer-Umkehr für die Mehrheitsgesellschaft die bequeme Lösung: Keine peinlichen Fragen nach politischer oder gesellschaftlicher Verantwortung, keine Notwendigkeit, irgendetwas am eigenen Weltbild oder der strukturellen Diskriminierung der als fremd Markierten zu ändern.

Die Liste der Merkwürdigkeiten, Pannen und Manipulationen in den Hafenstraßen-Ermittlungen ist lang. (1) Hier nur das Wichtigste in aller Kürze: In unmittelbarer Nähe des Tatorts werden junge Männer aus dem nahegelegenen Grevesmühlen von der Polizei kontrolliert und noch am selben Tag festgenommen. Die vier Verdächtigen stammen aus der dortigen rechten Szene, einer wird »Klein-Adolf« genannt. Sie haben also ein Motiv: nämlich Hass auf Geflüchtete. Bei drei der vier Festgenommen werden frische Sengspuren an den Haaren festgestellt – »wie sie für Brandstifter typisch sind«, so die Gerichtsmedizinerin. Für diese Spuren geben sie abenteuerliche und unterschiedliche Erklärungen ab: Einer habe nicht aufgepasst, als er seinen Ofen entzündet habe; der Zweite will mit einem Feuerzeug nachgeschaut haben, ob sich noch Benzin im Tank seines Mopeds befindet; der Dritte gab gar an, »aus Spaß« den Hund eines Nachbarn angezündet zu haben. Ein Beleg von einer sechs Kilometer vom Brandort entfernten Tankstelle wird von der Polizei jedoch als Alibi gewertet, obwohl der genaue Zeitpunkt der Brandlegung nie festgestellt wurde und sich diese Distanz nachts mit dem Auto in wenigen Minuten zurücklegen lässt. Aussagen der vier deuten auf Täterwissen hin, es gibt spätere (Teil-)Geständnisse und vieles mehr. Dennoch werden die vier Neonazis nach einem Tag wieder aus dem Polizeigewahrsam entlassen und nie vor Gericht gestellt.

Vom Opfer zum Täter

Stattdessen präsentieren Staatsanwaltschaft nun einen 21-jährigen Hausbewohner, der mit seiner Familie aus dem Libanon geflüchtet war, als den neuen Tatverdächtigen. Bei ihm gab es keine Brandspuren, kein Motiv. Nach der Theorie der Ermittler*innen hätte er den Brand legen müssen, um sich danach in einem darüber liegenden Stockwerk ins Bett zu legen und sich schließlich von der Feuerwehr mit der Drehleiter vom Dach retten zu lassen. Einziges Belastungsmoment ist die dubiose Aussage eines Rettungssanitäters, der in der Brandnacht von dem Beschuldigten eine Art Geständnis »Wir warn’s« gehört haben will. Alle weiteren Indizien stellten sich als Erfindungen und Spekulationen der Ermittler*innen heraus. Diese mehr als dürftige Beweislage reichte aber aus für monatelange Untersuchungshaft, ein Hauptverfahren und ein Berufungsverfahren, die beide mit einem klaren Freispruch endeten. Die Bezeichnung »rassistische Ermittlungen« für diese offenkundige Ungleichbehandlung der Tatverdächtigen je nach Herkunft führte zu einer Durchsuchung des Büros des Lübecker Bündnis gegen Rassismus und – schließlich eingestellten – Ermittlungen wegen »Beleidigung«.

Dreh- und Angelpunkt der Theorie der Staatsanwaltschaft ist die These, dass der Brand im Inneren des Hauses gelegt worden sein müsse und deshalb ein Anschlag von außen ausgeschlossen sei. Dabei hätte nach diesem Ablauf Benzin vom angeblichen Brandlegungsort nach oben fließen müssen, um eine Treppe in Brand zu setzen. Und überhaupt ist demnach völlig unerklärlich, wieso der hölzerne Vorbau des Hauses im Erdgeschoss schon ganz zu Beginn in Flammen stand. Vor allem aber widerspricht die These vom Brandausbruch im ersten Stock den Aussagen der überlebenden Hausbewohner*innen, die, um sich zu retten, noch über den Flur gelaufen sind, wo angeblich das Feuer begonnen haben soll. Die Liste der Merkwürdigkeiten lässt sich verlängern mit verschwundenen Beweismitteln und dem unerklärlichen Fundort der Leiche eines Hausbewohners im Erdgeschoss.

Institutioneller Rassismus und Gegenwehr

Trotz dieser eklatanten Widersprüche ist es weniger dem funktionierenden Rechtsstaat zu verdanken, dass kein Unschuldiger verurteilt wurde. Das lag vielmehr an einer engagierten Verteidigung, an der Unterstützung von antirassistischen Initiativen, der Beharrlichkeit kritischer Journalist*innen – und nicht zuletzt an der Solidarität der überlebenden Geflüchteten, die sich in ihrer überwiegenden Mehrzahl nicht haben gegeneinander ausspielen lassen und zu ihrem angeklagten Mitbewohner gestanden haben.

Seine politische Funktion hat das Vorgehen von Polizei und Staatsanwaltschaft dennoch erfüllt. Nach den vorangegangen Anschlägen von Mölln und Solingen sowie den Pogromen von Hoyerswerda und Rostock wollte das wiedervereinigte Deutschland sich nicht schon wieder für den mörderischen Rassismus rechtfertigen. Das ramponierte internationale Image war gerade etwas aufgebessert, da passte ein weiterer rechter Mordanschlag nicht ins Bild. Nach der Änderung des Artikels 16 des Grundgesetzes im Jahr 1993, mit dem das Grundrecht auf Asyl – unter tätiger Mithilfe der SPD und namentlich von Oskar Lafontaine – bis zur Unkenntlichkeit entstellt wurde, sollte nun wieder Ruhe einkehren. Eine neue Diskussion über die Unterbringung und Sicherheit von Geflüchteten sollte vermieden werden.

Der Verweis auf diesen gesellschaftlichen Hintergrund bedeutet übrigens nicht, dass hinter dem Vorgehen von Polizei und Staatsanwaltschaft eine große Verschwörung oder eine Anordnung von ganz oben stehen würde. Dafür gibt es weder Anzeichen noch Belege. Aber dies ist auch gar nicht notwendig, denn struktureller Rassismus und die Macht der herrschenden Diskurse kommt oft ohne Geheimpläne aus.

Antirassistische Gegenwehr ist möglich und aussichtsreich. Solidarität und Engagement von unten können Strukturen verändern und Diskurse verschieben. Auch hierfür bieten die Auseinandersetzungen um den Lübecker Brandanschlag ein gutes Beispiel. Gar nicht selbstverständlich war zum Beispiel die Durchsetzung des dauerhaften Bleiberechts für die 38 Überlebenden gegen den erkennbaren Unwillen von Landes- und Bundesregierung, beide damals CDU-geführt. Notwendig dafür war einerseits eine breite gesellschaftliche Mobilisierung, also antirassistische Initiativen, die nicht vorschnell der gesamten Gesellschaft einen »rassistischen Konsens« unterstellten, sondern gezielt nach Brüchen und Allianzen suchten. Andererseits aber auch eine kompromisslose Parteilichkeit und eine hohe Aktionsbereitschaft, indem zum Beispiel massenhafter Ungehorsam für den Fall der Abschiebung von Brandopfern glaubhaft angedroht wurde.

Die Initiative »Hafenstraße ’96« hat zum 25. Jahrestag eine Petition gestartet, um zu erreichen, dass der Landtag von Schleswig-Holstein einen Untersuchungsausschuss über den Brandanschlag einrichtet. Ziel der Initiative ist es, dass der zehnfache rassistische Mord nicht einfach als »unaufgeklärt« abgehakt wird, die Opfer nicht vergessen werden und die Schande der rassistischen Ermittlungen aufgearbeitet wird. Vielleicht gibt es sogar noch die Chance, dass die Wahrheit über den 18. Januar 1996 ans Tageslicht kommt.

Aber natürlich ist die Forderung nach einem Untersuchungsausschuss nur ein Mittel, um die Erinnerung wachzuhalten, Konsequenzen und Aufklärung zu fordern. Jedes Vertrauen in die Institutionen wäre fehl am Platz. Wenn sich diese bewegen, dann nur als Ergebnis von Druck und Bewegung von unten. Die Lehren und Schlussfolgerungen aus dem Lübecker Anschlag von 1996 sind dieselben wie die aus dem NSU-Komplex oder dem Hanauer Anschlag von 2020: Hört den Betroffenen zu, ergreift Partei und glaubt der Polizei kein Wort!

Christoph Kleine

ist aktiv in der Hamburger Ortsgruppe der Interventionistischen Linken.

Anmerkung:
1) Eine umfangreiche und lesenswerte Dokumentation findet sich auf der Webseite der Lübecker Initiative Hafenstraße ’96.