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Inlandstournee

In der Filmreihe »Fiktionsbescheinigung« blicken migrantische und Schwarze Filmemacher*innen auf Deutschland

Von Till Kadritzke

Ein Mädchen wäscht sich auf einer öffentlichen Toilette die Hände, dahinter steht ein Mann in Anzug und hält sich den Kopf
Der Film »Auslandstournee« von Ayşe Polat schickt die zwölfjährigen Şenay auf ein unfreiwilliges Roadmovie durch die türkischen Nachtclubszene von Paris, Wuppertal und München. Foto: © Baernd Fraatz

Gleich drei Filme kamen im letzten Sommer in die nur kurzzeitig geöffneten Kinos, die Hoffnung auf eine bessere Zukunft machten: endlich weniger deutsche Filme über Migration, dafür mehr postmigrantische Filme über Deutschland. Burhan Qurbanis Literaturaneignung »Berlin Alexanderplatz«, Faraz Shariats Debütfilm »Futur Drei« und Visar Morinas »Exil« war gemein, dass sie nicht bloß Geschichten von den Rändern erzählten, sondern selbstbewusst ins Zentrum starrten – und dass sie das deutsche Kino nicht um verwertbare Diversity-Marker erweiterten, sondern um vielfältige Perspektiven auf Deutschland. Desintegration statt Integration.

Dass eine solche Häufung überhaupt auffällt, hat weniger damit zu tun, dass diese Perspektiven bislang gefehlt haben, als dass sie aus der nationalen Filmgeschichtsschreibung ausgeschlossen waren. Meist nur in speziellen Filmreihen politischer Initiativen lässt sich ein Eindruck vom vielgestaltigen migrantischen und Schwarzen deutschen Filmschaffen der letzten Jahrzehnte gewinnen. Jetzt stellen das Forum der Berlinale sowie das im letzten Jahr initiierte Sinema Transtopia des Kunst- und Wissenschaftsprojekts bi’bak mit einer gemeinsamen Filmreihe die Frage nach Ein- und Ausschlüssen in der deutschen Filmgeschichte. Unter der dem Amtsdeutsch entlehnten Überschrift »Fiktionsbescheinigung« versammeln sie »16 filmische Perspektiven auf Deutschland«, die im Juni digital und im August live in Berlin zu sehen sein werden.

Die 16 Kurz- und Langfilme, in denen sich migrantische und Schwarze Filmemacher*innen aus Deutschland mit Deutschland befassen, sind auf acht Programme verteilt. Der älteste Beitrag ist »Gölge«, mit dem die heute als Künstlerin und Schauspielerin bekannte Sema Poyraz 1980 ihr Regiestudium an der DFFB, der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin, abschloss. Der Film, gemeinsam mit dem mittlerweile verstorbenen griechischen Kommilitonen Sofoklis Adamidis gedreht, spielt überwiegend im engen Wohnraum einer aus der Türkei eingewanderten Familie und dreht sich um das erwachende Begehren der älteren Tochter, die sich zwischen familiären und rassistischen Zwängen eine Befreiung erträumt, die bis auf Weiteres nur in der Fiktion möglich scheint. Poyraz ist auch mit einem späteren Kurzfilm im Programm vertreten: In »Die Türhüter« befragte sie 1988 Berliner*innen türkischer Herkunft zu ihrem Verhältnis zur Berliner Mauer – und zu anderen Mauern, die ihren Alltag bestimmten.

Einige weitere Filme im Programm sind in den 1990er Jahren entstanden und beschäftigen sich mit den traumatischen Nach-Wende-Erfahrungen migrantischer Communities, so Angelika Nguyens Kurzfilm »Bruderland ist abgebrannt« über das Schicksal vietnamesischer Vertragsarbeiter*innen nach dem Zusammenbruch der DDR. Andere Arbeiten sind aktueller und liefen bereits im Kino, neben »Exil« auch Mala Reinhardts »Der zweite Anschlag«, der ausgehend von Begegnungen mit Betroffenen des NSU-Terrors sowie der Anschläge von Mölln und Rostock-Lichtenhagen die Kontinuität rassistischer Gewalt bis in die 1980er Jahre zurückverfolgt.

In Programm 7 treffen zwei besondere Fundstücke von 1999 aufeinander: In Idrissou Mora-Kpais 25-minütiger »Fake Soldiers« geben sich zwei Schwarze Deutsche als afroamerikanische G.I.s aus, um ihr Flirt-Kapital zu steigern. Ayşe Polats berührendes Roadmovie »Auslandstournee« erzählt die Geschichte der 12-jährigen Şenay, die nach dem Tod ihres alleinerziehenden Vaters auf ein unfreiwilliges Roadmovie durch die türkischen Nachtclubszene von Paris, Wuppertal und München geschickt wird. Ihr Coming-of-Age trifft dort auf ein vergangenes Coming Out.

Begleitet wird die Reihe, die zwischen dem 9. und 30. Juni zunächst auf der Streaming-Plattform des Berliner Arsenals läuft, von Online-Panels, Künstler*innengesprächen und Vorträgen. Wenn sie im August dann auch im Sinema Transtopia im Berliner Haus der Statistik gezeigt wird, verhilft das hoffentlich auch diesem einzigartigen Ort zu mehr Aufmerksamkeit. Im hauseigenen Open-Air-Kino sind dort bis zum Herbst auch Filmreihen zum dekolonialen Film, zu Bildpolitiken des Kurdischen im türkischen Kino sowie dem iranischen Filmschaffen vor 1979 geplant. Eine buchstäbliche Institution des postmigrantischen Kinos also, die glücklicherweise gerade erst richtig loslegt.

Till Kadritzke

forscht an der FU Berlin zu postmigrantischem und Schwarzem Kino in den USA und Deutschland.