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|ak 673 | Alltag

Aufholen statt Erholen

Nach einem Jahr Pandemie sollen Schüler*innen nun umso mehr Leistungen erbringen – wer das schafft, ist auch eine Klassenfrage

Von David Pape

Wenn es nach der Politik geht, werden Schüler*innen auch im zweiten Corona-Jahr wenig Raum für unbeschwerte Freizeit haben. Foto: Matthias Berg

Die Pandemie hielt für die Schüler*innen eine Lehre parat, die schon Bertolt Brecht in den »Flüchtlingsgesprächen« durch seinen Protagonisten Ziffel über die Schule sagen ließ: »Die Kinder der besseren Leute wurden besser behandelt als die der Leute, welche arbeiteten.« Dass die Kinder diese Lektion schon in der Schule lernten, begrüßte Ziffel, denn andernfalls, »würden die jungen Menschen diesen Unterschied in der Behandlung, der so unendlich wichtig ist, erst im Leben kennenlernen.«

In Zeiten der Corona-Pandemie müssen sich die Schüler*innen – wenn sie es überhaupt je mussten – nun wahrlich keine Gedanken mehr darüber machen, dass ihnen diese wichtige Lebenslektion im Lehrbetrieb vorenthalten werden könnte. Die Corona-Pandemie verschlechtert die Situation von jungen Menschen insgesamt, was eindrücklich durch verschiedene Studien belegt und untermauert wurde. So kommt die zweite Auswertung der Hildesheimer JuCo-Studie, in der über 7.000 Jugendliche zu ihrem Erleben der Pandemie befragt wurden, zu dem Ergebnis, dass über 45 Prozent der Befragten Angst vor der Zukunft haben. Die Corona-Pandemie bildet für die gesamte Generation junger Menschen einen  gemeinsamen Erfahrungshorizont, vor dem sich laut Studie »viele Jugendliche und junge Erwachsene … allein gelassen, verunsichert, einsam und psychisch belastet« fühlen. Allerdings kommen die (Vor-)Auswertungen zahlreicher Studien zu dem Ergebnis, dass das Erleben der Pandemie nicht nur eine Generationserfahrung, sondern vor allem auch eine Klassenerfahrung ist und die soziale Ungleichheit unter Jugendlichen nicht nur das Erleben der Pandemie beeinflusst, sondern sich durch diese nochmal verstärkt hat. So hatte laut IFO-Institut der Wegfall des Präsenzunterrichts verheerende Folgen für die Chancengleichheit.

Auch mit Blick auf die psychische Gesundheit sind junge Menschen unterschiedlich betroffen. Zwar ist die Corona-Pandemie für alle eine besondere Herausforderung, allerdings hat diese für Kinder und Jugendliche aus den unteren Schichten deutlich gravierendere negative gesundheitliche Folgen, wie Erfahrungen des Universitätsklinikums Leipzig bereits letztes Jahr nahegelegt hatten. Bestärkt wurden diese durch die Ergebnisse der zweiten Befragung der sogenannten COPSY-Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf, deren Leiterin Prof. Dr. Ulrike Ravens-Sieberer diese Klassendiskrepanz bei den Betroffenen der Corona-Pandemie gegenüber tagesschau.de in der entpolitisierenden Sprache der Sozialen Arbeit vortrug: »Wer also schon vor der Pandemie Schwierigkeiten hatte, und auch von den Eltern nicht gut unterstützt wird, der hat jetzt als Kind und Jugendlicher noch mehr Probleme. Unsere Ergebnisse zeigen erneut: Wer vor der Pandemie gut dastand, Strukturen erlernt hat und sich in seiner Familie wohl und gut aufgehoben fühlt, wird auch gut durch die Pandemie kommen.«

Sommer der Repression

Auch die im Sommer eingetretenen Lockerungen sind – wie etwa in der Gas­tronomie – oft mit Konsumzwang verbunden oder nur mit dem Zahlen von Eintrittspreisen zu erkaufen. Für Jugendliche, die sich dies nicht leisten können, bleiben nur öffentliche Plätze, Freiflächen und Parks. Hier gelten sie aber als mögliche Superspreader und werden von der Polizei mit dem nötigen Nachdruck darauf hingewiesen, sich an die Corona-Verordnungen zu halten. Da wo die Corona-Regelungen nicht schon ausreichen, um das Zusammentreffen von Jugendlichen abends und mit Alkohol zu verhindern, versucht die Politik mit neuen Verordnungen – die sich vorrangig an Jugendliche richten – nachzuschärfen. So wurden in Hamburg beinahe wöchentlich neue Alkohol- und Betretungsverbote verabschiedet – an jenen Orten, an denen sich Jugendliche wochenends davor getroffen und gefeiert hatten. Flankiert werden diese Verbote von einem martialischen Auftreten der Polizei. Nicht nur werden Wasserwerfer zur Auflösung von Ansammlungen eingesetzt, sondern es kam immer wieder zu Übergriffen und Misshandlungen von Jugendlichen durch die Polizei. So berichtet die Antifa Altona Ost auf ihrer Instragramseite von unverhältnismäßigen Einsätzen, in denen gegen friedliche Jugendliche gewaltsam vorgegangen wurde. Unterstützt werde dieses Vorgehen durch eine Kampagne von Medien und Politik, die der Jugend die Schuld für die Pandemie in die Schuhe schieben wolle. In die Schlagzeilen schaffte es – dank eines im Internet verbreiteten Videos – unterdessen die Misshandlung eines Jugendlichen, der am Rande einer Polizeimaßnahme im Hamburger Stadtpark bereits festgenommen und fixiert worden war, als er von einem Polizisten mit der Faust ins Gesicht geschlagen wurde. Das aggressive Vorgehen der Polizei, aber auch fehlende Ausweichmöglichkeiten, sorgten nicht nur in Hamburg dafür, dass die angespannte Lage in Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Jugendlichen gipfelten.

Während die einen konsequenteres Vorgehen der Polizei gegenüber jugendlichen Deliquent*innen fordern, sehen wieder andere, wie die beiden »Jugendforscher« Simon Schnetzer und Klaus Hurrelmann, den sozialen Frieden in Gefahr, wenn man ihnen nicht wenigstens ein bisschen Freiraum einräumt.

 »Die jungen Menschen sind sehr stark belastet – und wenn wir den Zusammenhalt der Gesellschaft bewahren wollen, dann müssen wir uns jetzt dringend um sie kümmern«, sagte Simon Schnetzer bei der Vorstellung ihrer Studie »Jugend und Corona in Deutschland: Die Jugend am Ende Ihrer Geduld«. Die Studie betont zwar, dass jungen Menschen mehr Freiräume zugestanden werden müssen, malt aber zugleich ein bedrohliches Bild der Jugend, welche in der Lage wäre, den sozialen Frieden in Deutschland aufzukündigen.

Von den zwei Milliarden Euro, die das Aufholpaket der Regierung umfasst, wird nur ein winziger Teil an belastete Familien direkt gehen.

Keine Schule für alle

Während Jugendliche aus Arbeiter*in­nenfamilien nicht nur abends kaum Freizeitmöglichkeiten haben, sondern auch in der Schule deutlich schlechtere Startbedingungen haben, entsteht zusätzlich der Eindruck, die Gymnasien würden während der Pandemie gegenüber anderen Schulformen eine privilegiertere Stellung genießen. In Augsburg, Nürnberg und München streikten im Februar Schüler*innen der Fachoberschulen und Berufsoberschulen, weil Erleichterungen wie der Wegfall von Prüfungen, die zuvor für Gymnasien verabschiedet wurden, für sie nicht gelten sollten.

Auch in Erfurt haben mehrere Abschlussklassen von Realschulen Entlastung gefordert und auf ihre teilweise desaströse Lage aufmerksam gemacht. Ein Schüler sagte gegenüber Radio F.R.E.I. aus Erfurt, dass sie Lehrer*innen aufgrund fehlender Emailadressen über Monate nicht erreichen konnten. Der Blick auf die Real- und Hauptschulen müsse nochmal gesondert stattfinden, da sich die Situation an den Realschulen nicht mit denen an den Gymnasien vergleichen ließe. Diese würden notwendige Hilfe und Infrastruktur für Online- wie hygienekonformen Präsenzunterricht immer deutlich früher bekommen und in der Politik und Verwaltung eine privilegierte Stellung genießen. Aufgrund der ständigen Überforderung und der Unmöglichkeit, sich unter Coronabedingungen vernünftig auf die Prüfungen vorbereiten zu können, forderten die Schüler*innen im März in einem offenen Brief ein Aussetzen der Prüfungen und vernünftige (digitale) Infrastrukturen zum Lernen.

Unterstützt wurden sie dabei von den Falken Erfurt, die mit den Schüler*innen zusammen die Kampagne organisierten und versuchten, für Öffentlichkeit zu sorgen, aber auch von einigen Lehrer*innen, durch privat finanzierte Rechner und flexible Erreichbarkeit. Janika, die bei den Erfurter Falken organisiert ist, sieht einen direkten Zusammenhang zwischen dem Umgang mit den Schüler*innen und ihrer kapitalistischen Verwertbarkeit: »Die Reaktionen auf die Schüler*innenkampagne haben wieder einmal deutlich gezeigt, dass man nichts von Politik oder Verwaltung zu erwarten hat. Es wurde mit paternalistischem Lob für das soziale Engagement reagiert, versichert, dass man Anliegen und Vorschläge nachvollziehe oder sogar teile, aber dass rechtliche Schranken ein Aussetzen der Prüfungen nicht zuließen. Die rechtlichen Schranken mögen bestehen und der gute Wille der Einzelnen existieren, am Ende ist diese Situation aber ein krasser Ausdruck der rechtlich fixierten Verwertungslogik.«

Büffeln und funktionieren

Gleichzeitigt kündigt sich zumindest in der Bundespolitik ein Wechsel in der Pandemiebeschulung an: Befeuert von der Perspektive, dass der Impffortschritt  schon bald für einer Rückkehr zur »Normalität« sorgen könnte, geht es nun vermehrt darum, die entstandenen Lücken zu schließen. Der Titel des zweimilliardenschweren »Aufholpakets« macht dabei bereits klar, wohin die Reise gehen soll: Schüler*innen sollen die Rückstände, die während der Pandemie entstanden sind, wieder nacharbeiten. Mit dem Geld sollen schwerpunktmäßig Sommercamps und Lernwerkstätten in den Sommerferien durchgeführt werden und mit Beginn des neuen Schuljahres unterrichtsbegleitende Fördermaßnahmen in den Kernfächern stattfinden. Nachdem Schüler*innen eineinhalb Jahre zurückstecken mussten, um die Arbeitsfähigkeit der Eltern zu unterstützen und kein allzu großes Hindernis im Homeoffice zu sein, sollen sie nun zurückstecken, weil sie gerade wegen des sich verschärfenden internationalen Wettbewerbs ein wichtiger zukünftiger Standortfaktor sind. Wenn in der Politik also die Rede davon ist, dass es jetzt auch mal um die jungen Menschen gehen müsse, sollten diese das nicht als Versprechen, sondern vor allem als Drohung verstehen, dass die eineinhalb Jahre »Ferien« nun zu Ende seien.

Dass der psychische Stress, dem die Schüler*innen ausgesetzt waren und sind, keine besonders resilienten Arbeitnehmer*innen macht, weiß auch die Politik. Deshalb setzt sie neben Büffeln auch auf die großzügige Unterstützung von außerschulischen Freizeitangeboten. Bemerkenswert ist, dass von den zwei Milliarden Euro, die das Paket insgesamt umfasst und die im schulischen Bereich von den Ländern sicher nochmal aufgestockt werden, nur ein winziger Teil an belastete Familien direkt geht. Finanziert werden also Sozialarbeiter*innen, Lehrer*innen, Schulen und Kitas. Eine kurze finanzielle Atempause für belastete Familien ist dagegen nicht vorgesehen. Denn neben Mathe, Deutsch und Englisch sollen Schüler*innen weiterhin vor allem lernen mit ihrer (drohenden) Armut produktiv umzugehen und ihre Freizeit so zu verbringen, dass man dabei nicht mit der Polizei in Konflikt gerät.

Wer keine reichen Eltern hat, hatte während der Pandemie oft das Nachsehen, und die Bildungslücken werden sich in den nächsten Jahren trotz milliardenschwerer Aufholpakete nur noch vergrößern. Das werden die Schüler*innen bei den Abschlussprüfungen oder spätestens bei der Ausbildungsplatzsuche zu spüren bekommen.

David Pape

ist Sozialpädagoge aus Hamburg und Referent für Kinder-, Jugend- und Bildungspolitik im Bundesvorstand der Sozialistischen Jugend Die Falken.