analyse & kritik

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|ak 706 | Lesen |Rezensionen: aufgeblättert

Kolonie und Theorie

Aufgeblättert: »Schule des Südens« von Onur Erdur

Von Robert Heinze

Die französischen Protagonist*innen der postmodernen Theorie werden selten mit der kolonialen Welt in Verbindung gebracht. Erst die postkoloniale Theorie, so erscheint es oft in der Literatur über sie, habe die postmodernen Konzepte und Methoden auf die koloniale und postkoloniale Welt angewandt und so den Westen dezentriert. Onur Erdur erkundet die unter dieser Annahme verschüttete Geschichte, die auch eine Ideengeschichte Frankreichs ist: Bekannte französische Theoretiker des Postmodernismus wie Jacques Derrida, Michel Foucault oder Roland Barthes waren in zentraler biografischer und intellektueller Hinsicht und oft auf zutiefst widersprüchliche Art in dessen koloniale Geschichte und der französischen Dekolonisierung verstrickt. In acht biografischen Skizzen beschreibt Erdur diese Verstrickung. Im Hintergrund all dieser Skizzen steht die Katastrophe des Algerienkriegs als Schlüsselerfahrung ihrer Generation. Der Krieg begann nicht nur den Zerfall des französischen Kolonialreichs in Afrika, sondern stürzte Frankreich in eine schwere Krise. Dass dies bisher nicht in den vielen Büchern zur »French Theory« berücksichtigt wurde, so Erdur, ist auch Ergebnis der Verdrängung dieser Krise in der französischen Gesellschaft, aber auch durch die von ihm beschriebenen Theoretiker*innen selbst. Erdur gelingt es dennoch, überzeugend die ambivalente Rolle dieser Erfahrungen für ihre zentralen Werke, und so auch die Geschichte der postmodernen Theorie produktiv zu dezentrieren.

Onur Erdur: Schule des Südens. Die kolonialen Wurzeln der französischen Theorie. Matthes & Seitz, Berlin 2024. 335 Seiten, 28 EUR.