Familie und Revolte
Aufgeblättert: »Ein Tag wird kommen« von Giulia Caminito
Von Jens Renner
In ihrem Roman »Ein Tag wird kommen« erzählt Giulia Caminito eine italienische Familiengeschichte vor dem Hintergrund heftiger Klassenkämpfe zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Das in der mittelitalienischen Region Marken gelegene Bergstädtchen Serra de‘ Conti ist ein »Ort der Habenichtse«, wo die Menschen als Halbpächter und Tagelöhner ums Überleben kämpfen. Lupo ist der rebellische große Bruder des körperlich schwachen und ängstlichen Nicola. Ihn beschützt er, auch vor dem gewalttätigen Vater. Die Mutter hat etliche Kinder zur Welt gebracht. Mehrere von ihnen sind früh gestorben; die Tochter Nella geht ins Kloster.
Dessen Äbtissin ist Suor Clara – eine Schwarze Frau, die als Kind im Sudan von Menschenhändlern geraubt und nach Italien verkauft worden ist. Clara genießt als Ratgeberin hohes Ansehen in der Bevölkerung. Auch revolutionäre Aktivist*innen bieten Orientierung: Die herrschenden Ausbeuter und die Pfaffen lügen, weil sie ihre Macht erhalten wollen; es bringt aber nichts, den König zu töten, weil dann nur ein neuer folgt. Vielmehr ist kollektiver Widerstand nötig. Während die ungleichen Brüder von der Autorin erfunden wurden, haben andere Romanfiguren wirklich gelebt. Zu den historischen Fakten, die den Hintergrund der Geschichte bilden, gehört neben dem Ersten Weltkrieg und der Spanischen Grippe an dessen Ende auch die »Rote Woche« im Juni 1914 – eine spontane Revolte als Reaktion auf die Erschießung dreier demonstrierender Arbeiter durch die Carabinieri.
Giulia Caminito: Ein Tag wird kommen. Roman. Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2020. 265 Seiten, 22 EUR.