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Das Dokumentationszentrum der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung will im Sommer eröffnen

Von Gerd Wiegel

Ohne Nazi-Okkupation und Germanisierung keine Vertreibung – eine Erkenntnis, die nicht allen einleuchtet. Foto: Bundesarchiv, B 285 Bild-S00-00326/Unknown, CC BY-SA 3.0 DE

Nur 13 Jahre nach der Beschlussfassung im Bundestag soll im Sommer 2021 das Dokumentationszentrum der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung seine Tore im Deutschlandhaus gegenüber dem ehemaligen Anhalter Bahnhof in Berlin öffnen. Für Berliner Verhältnisse fast schnell, wiewohl man einräumen muss, dass die Verantwortung für diese Verzögerung nicht beim Land Berlin liegt. Und wie auch bei manch anderem unsinnigen Großprojekt kann man nur dankbar sein, dass sich die Eröffnung dieses konservativen geschichtspolitischen Vorstoßes immer wieder verzögert hat.

Zwei Direktoren hat das Doku-Zentrum verschlissen, bevor es überhaupt in die Öffentlichkeit getreten ist. Regelmäßige Streitigkeiten im wissenschaftlichen Beirat bis hin zu diplomatischen Verwicklungen kennzeichnen die Geschichte der Stiftung, die von Anfang an als geschichtspolitischer Kontrapunkt zur Erinnerung an die deutschen Verbrechen während des Faschismus konzipiert war.

Die Eingemeindung der Deutschen auf der Seite der Opfer des Faschismus war lange Zeit ein zentrales Anliegen der Konservativen, um so die Frage nach Täter*innenschaft, Verantwortung und Folgen für die Politik des 1990 vereinigten Deutschland in einem günstigeren Licht erscheinen zu lassen. Mit den Themen des Bombenkrieges gegen deutsche Städte, mehr aber noch mit der Vertreibung der Deutschen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten in Polen und der damaligen Tschechoslowakei wurden Debatten lanciert, die als konservative Antwort auf die geschichtspolitischen Kontroversen der 1990er und frühen 2000er Jahre zu verstehen sind. Verbrechen der Wehrmacht, Entschädigung der Zwangsarbeiter*innen, Holocaustmahnmal – zentrale zeithistorische Auseinandersetzungen kreisten um die deutschen Verbrechen im Faschismus. Insofern war es für Konservative naheliegend, die vermeintlichen deutschen Opfer stärker ins Zentrum zu rücken.

Speerspitze der Kampagne war der Bund der Vertriebenen (BdV) mit seiner damaligen Präsidentin Erika Steinbach, heute Vorsitzende der AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung (DES). Mit der BdV-Gründung eines »Zentrums gegen Vertreibung« im Jahr 2000 bauten Steinbach und der Verband Druck gegenüber der Politik auf, der nach der Regierungsübernahme durch die Union unter Angela Merkel auch Erfolg hatte.

Die konservative Agenda wurde nur überdeckt, aber niemals aufgegeben.

Hatte der teils rüde Geschichtsrevisionismus des BdV, der auch mit Gebietsansprüchen gegenüber Polen und der Tschechoslowakei hantierte, nach dem Ende des Kalten Krieges für manche diplomatische Verstimmung mit den Nachbar*innen im Osten gesorgt, so wollte sich die Bundesregierung unter Merkel jetzt des Themas annehmen, um es – geschichtspolitisch besser verpackt – den neuen Partner*innen im Osten schmackhaft zu machen. Entkontextualisierung und Internationalisierung waren und sind entscheidende Stichworte bei diesem Versuch.

Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten ist nur vor dem Hintergrund der Rolle der deutschen Minderheit bei der »Germanisierung« dieser Gebiete und der Unterstützung der Nazis seit 1933 zu verstehen. Vom BdV und auch von der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung gibt es immer wieder Versuche, diesen Zusammenhang zu relativieren. Der Einbezug der deutschen Erfahrung in die internationale Geschichte von Flucht und Vertreibung ist ein weiterer Versuch, den Verdacht des Geschichtsrevisionismus zu konterkarieren. Diese Einbettung stößt sich jedoch am Anspruch der Stiftung, den Hauptakzent der Darstellung auf die Vertreibung der Deutschen zu legen.

Personelle Skandalgeschichte

Sieht man sich Konstruktion und personelle Auswahl der Stiftung an, dann wird schnell klar, dass die konservative Agenda nur überdeckt, aber niemals aufgegeben wurde. Die größte Gruppe im 21-köpfigen Stiftungsrat stellt der BdV mit sechs Mitgliedern. Aufgrund geschichtsrevisionistischer Äußerungen von dieser Seite ließen der Zentralrat der Juden und auch die Sinti und Roma ihre Sitze im Stiftungsrat zeitweilig ruhen.

Als Gründungsdirektor benannte die Bundesregierung den Historiker Manfred Kittel, einen hundertprozentigen Parteigänger des BdV. Schon die Titel von Kittels Büchern machen deutlich, welchen Blick er auf diesen Teil der Geschichte hat. In »Vertreibung der Vertriebenen« behauptet er wahrheitswidrig, die Vertriebenen seien jahrzehntelang aus der Erinnerungskultur der Deutschen verdrängt worden, sodass man von »einer zweiten geistigen Vertreibung der Vertriebenen« sprechen müsse. In seiner Zeit beim Institut für Zeitgeschichte wollte er eine Studie zur NS-belasteten Geschichte einzelner BdV-Funktionär*innene an ein Mitglied einer Vertriebenenorganisation vergeben, was man auch als Distanzlosigkeit bezeichnen könnte. Im Buch »Die Legende von der ›zweiten Schuld‹« behauptet Kittel, die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit sei in der Frühphase der Bundesrepublik geradezu vorbildhaft gewesen, Mängel mochte er nicht erkennen. Problematisch sei vielmehr die von ihm als »Weltanschauungskrieg« bezeichnete »Reeducation« gewesen, und durch die justizielle Aufarbeitung der NS-Verbrechen ab den 1960er Jahren seien »auch noch die letzten Residuen des deutschen Nationalgefühls« verloren gegangen. Als Kittel schließlich ohne Konsultation des wissenschaftlichen Beirats der Stiftung eine Ausstellung als Teil der Dauerausstellung organisierte, die ohne historischen und internationalen Kontext die Vertreibung der Deutschen ins Zentrum stellte, führte dies zum Rücktritt etlicher Beiratsmitglieder und schließlich zur Abberufung Kittels.

Befriedungsstrategie

Nachfolger von Kittel wurde 2015 der Historiker Winfried Halder, der zwar inhaltlich für das Thema der Stiftung ohne jede Expertise war, dafür aber ein klar konservatives Profil besaß und als Kandidat der Vertriebenenverbände angesehen wurde. Michael Schwarz vom Institut für Zeitgeschichte, der mit Halder um den Posten konkurrierte und Autor mehrerer Standardwerke zum Thema ist, hatte im BdV-dominierten Stiftungsrat auch deshalb keine Chance, weil er unter anderem eine kritische Studie zum BdV verfasst hat. Folge dieser Neubesetzung war der Rücktritt von fünf weiteren Mitgliedern des wissenschaftlichen Beirats, was schnell auch zum Rückzug von Halder führte. Spätestens an dieser Stelle hätte die zuständige Staatsministerin Monika Grütters (CDU) das ganze Projekt stoppen müssen. Man entschied sich aber für den neuen geschichtspolitischen Kurs des Konservatismus: verbale Zugeständnisse, Skandale kleinreden, Thema aus der Öffentlichkeit nehmen und die eigene Agenda fortsetzen.

Mit der seit 2016 amtierenden Direktorin Gundula Bavendamm ist diese Beruhigung leidlich gelungen, auch wenn sich die Eröffnung bis heute immer wieder verzögert hat. Besondere Expertise zum Thema weist auch Bavendamm nicht auf. Immerhin sorgte sie dafür, dass es keine weiteren Skandale gab. In die Schlagzeilen kam im Frühjahr die Ablehnung eines von der Stiftung beauftragten Social-Media-Films des Regisseurs Ersan Mondtag, der die Instrumentalisierung des Vertreibungsthemas durch die extreme Rechte und Ausschnitte aus Höcke-Reden enthielt – offenbar zu viel Kritik für die Stiftung.

Dauerausstellung und Begleitprogramme werden zeigen, wo sich die Stiftung geschichtspolitisch positionieren will. Nach allem, was bekannt ist, genau dort, wo auch die konservativen Teile der politischen Eliten stehen: Die Deutschen waren in ihrer großen Mehrheit, wie alle anderen auch, Opfer der Nazis. Deutschland stellt sich seiner Verantwortung, aber das sollten die anderen »totalitären« Nachfahren, wie z.B. Russland, endlich auch tun. Das Gerede von der »gemeinsamen europäischen Verantwortung«: Hier bekommt es eine ganz eigene Bedeutung.

Gerd Wiegel

arbeitet als Referent für Rechtsextremismus/Antifaschismus bei der Bundestagsfraktion der Linkspartei.