Auf der Suche nach Worten
Geht es in Deutschland um jüdisches Leben, dann geht es vor allem um die Interessen der Deutschen
Von Pajam Masoumi
1979 wurde der Holocaustüberlebende, Autor und Linksintellektuellen Jean Améry für die Reihe »Zeugen des Jahrhunderts« interviewt. Für die Beschreibung des Holocausts fehlten Améry die Worte. Ein Umstand, der sich bis heute durch die Bevölkerung zieht, auch wenn Amérys Sprachlosigkeit sicher nicht aus der historischen Schuld der Deutschen herrührt. Améry betont die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Gewalt, rekurriert auf Sartres Vorwort in Frantz Fanons »Verdammten dieser Erde« und analysiert die graduellen Unterschiede der Gewalt des italienischen Faschismus, des Nationalsozialismus sowie des Stalinismus. Dabei lässt Améry Graustufen zu, sieht, trotz der Gewalt, die Nuancen. Etwas das, unter dem Eindruck der polarisierten Öffentlichkeit, heute kaum möglich scheint. Dies führt zur Gegenwart, heftigen Debatten um Postkolonialismus, Grenzen des Denk- und Sagbaren, Fragen um die Legitimität von Vergleichen und Gewalt und letztlich, welche Position Linke zu all diesen Themen einnehmen. Denn die deutsche Erinnerungskultur und die Singularität des Holocausts hat eine dialektische Rolle in der deutschen Erinnerungskultur eingenommen: Einerseits nimmt sie Bezug auf die faktische Einzigartigkeit des Holocausts, andererseits verhindert sie, dass die Forderung nach einem »Nie wieder!« von den Betroffenen der deutschen Politik gefüllt wird.
Seit dem Angriff der Hamas am 7. Oktober auf Israel und dem folgenden Krieg in Gaza hat die Debatte rund um deutsche Erinnerungskultur in den Feuilletons der bürgerlichen Medien erneut Fahrt aufgenommen. Was jedoch erinnert wird, bleibt selektiv. Damit ist nicht ausschließlich die Erinnerung an Kontinuitäten und Unterschieden zwischen dem deutschen Kolonialismus und Nationalsozialismus gemeint, auch der von Nazis Ermordeten wird selektiv gedacht. Der Genozid an den Roma und Sinti, der Porajmos, wurde bis 1982 nicht einmal als Völkermord anerkannt. Die Anerkennung von Roma als eigenständige Opfergruppe des Holocausts enthüllt eine erinnerungspolitische Doppelmoral. Statt eines Bruchs mit der nationalsozialistischen Verfolgung wurden selbst die alten Karteien für weitere Strafverfolgung genutzt. Es wurde argumentiert, die Verfolgung von Sinti und Roma hätte keinen »rassistischen« Hintergrund, da sie bereits vor dem Holocaust verfolgt wurden. Sinti und Roma sind, ähnlich wie Juden und Jüdinnen, ein »Volk ohne Land«, welches im Nationalsozialismus ausgerottet werden sollte. Am 16. März 1997 sagte der damalige Bundespräsident Roman Herzog bei der Eröffnung des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma: »Der Völkermord an den Sinti und Roma ist aus dem gleichen Motiv des Rassenwahns, mit dem gleichen Vorsatz und dem gleichen Willen zur planmäßigen und endgültigen Vernichtung durchgeführt worden wie der an den Juden. Sie wurden im gesamten Einflussbereich der Nationalsozialisten systematisch und familienweise vom Kleinkind bis zum Greis ermordet.«
Diese Erkenntnis ist erst nach dem ersten Historikerstreit erarbeitet worden, in dessen Rahmen die »Singularität des Holocausts« als erinnerungspolitische Maxime Deutschlands erstritten wurde. Dieses Geschichtsverständnis erkämpfte der linksliberale Jürgen Habermas in Abgrenzung zum konservativen Ernst Nolte. Habermas widersetzte sich Noltes revisionistischer Annahme, die deutschen Vernichtungslager wären als Reaktion auf das Gulag und den Stalinismus entstanden.
In der radikalen Linken sah die Aufarbeitung der deutschen Verbrechen anders aus. Gab die Bewegung der 1968er und die Proteste gegen den tausendjährigen Muff der deutschen Akademia noch Anstoß für eine erinnerungspolitische Auseinandersetzung mit Nazitäter*innen innerhalb der universitären Zirkel, gipfelte bei anderen das antiisraelische Ressentiment in einer Flugzeugentführung, die ihr blutiges Ende in Entebbe nahm. Besonders die Flugzeugentführung der Revolutionären Zellen mit der PFLP stieß eine Auseinandersetzung innerhalb der Linken an.
Vor den Studentenprotesten war von deutscher Aufarbeitung recht wenig zu sehen. NS-Täter wurden rehabilitiert, zu antikommunistischen Beratern der Bundeswehr, die Verstrickung der deutschen Zivilbevölkerung in den beispiellosen Massenmord verschwiegen, und jeder hatte angeblich einen Verwandten im Widerstand. Auch nach der 68er-Bewegung und dem Anstoß zur bundesdeutschen Reflexion wurden Orte der Erinnerung gegen den westdeutschen Staat erkämpft und nicht von ihm. Die Forderungen waren nicht nur auf die Vergangenheit beschränkt: Sinti und Roma in Hamburg besetzten 1989 das ehemalige KZ-Neuengamme, nicht nur, um an ihre Vernichtung zu erinnern, sondern auch, um gegen ihre massenhaften Abschiebungen zu protestieren, die auf dem Entzug ihrer deutschen Pässe durch den NS-Staat basierte.
Instrumentelles Erinnern
Nach dem Mauerfall öffneten sich den westdeutschen Historiker*innen die Archive des Ostens, und die Aufarbeitung der NS-Verbrechen bekam eine bis dato unbekannte Popularität. Zeitgleich begann eine Diskussion um »doppelte Vergangenheitsbewältigung« der beiden deutschen Diktaturen, bei welcher keineswegs Vergleiche zwischen DDR und Nationalsozialismus gescheut wurden. Die Folgen für das politische Handeln der Bundesrepublik blieben nicht aus. Joschka Fischer, späterer Außenminister der BRD, argumentierte 1995 gegen ein Eingreifen der Bundeswehr in den Jugoslawienkrieg folgendermaßen: »Ich bin der festen Überzeugung, dass deutsche Soldaten dort, wo im Zweiten Weltkrieg die Hitler-Soldateska gewütet hat, den Konflikt anheizen und nicht deeskalieren würden«. 1999 revidierte er seine Position und legitimierte mit dem Satz »Ich habe nicht nur gelernt: Nie wieder Krieg. Ich habe auch gelernt: Nie wieder Auschwitz« den ersten Kampfeinsatz nach 1945 von deutschen Soldaten ausgerechnet mit dem größten Verbrechen der Deutschen. Der Truppeneinsatz in Serbien führte zum endgültigen Bruch innerhalb der deutschen Linken: War die Annexion der DDR noch Anlass vor einem Vierten Reich zu warnen, wurde der Kampfeinsatz zum Lackmustest der Antideutschen. Sahen eben jene im Bundeswehreinsatz einen konsequenten Antifaschismus und die Erfüllung des Versprechens »Nie wieder Faschismus!«, sahen Antiimperialist*innen in den NATO-Einsätzen imperialistische Machtspiele der Bundesrepublik und des transatlantischen Kriegsbündnisses.
Nach dem 11. September 2001 setzte sich der Konflikt um Positionen zum Krieg fort und führte zu weiteren heftigen Auseinandersetzungen. Besonders im Zuge des »War on Terror« wurde schließlich die Verbindung zwischen Islamismus und Faschismus gezogen, die bis heute umstritten ist. Auch die Kollaboration arabischer Nationalisten mit den Nazis und die Übernahme völkisch-antisemitischer Mythen deutscher Reichspropaganda im Nahen Osten bieten in Diskussionen oft Anlass, Islamist*innen, ganz aktuell besonders Hamas, als »die neuen Nazis« zu bezeichnen. Nach dem 7. Oktober hat dieser Vergleich eine neue Qualität erreicht: Der rechtspopulistische Journalist Douglas Murray behauptete in einem Interview, die Nazis hätten sich immerhin für ihre Taten geschämt und diese versteckt – die Hamas sei jedoch stolz zeige und ihre Taten der Öffentlichkeit. Unter anderem Karl Lauterbach bezeichnete dieses Interview als »sehenswert«. Dass die Nazis sich schämten und ihre Taten versteckten, ist falsch; es reicht ein Besuch bei einer Gedenkstätte, um das herauszufinden.
Erinnerungspolitische Wende
Nach der zweiten Intifada im Jahr 2000, während der auch in Deutschland Israelfahnen brannten, nach den islamistischen Anschlägen am 11. September 2001, dem Partypatriotismus während der Weltmeisterschaft 2006 und Thilo Sarrazins »Deutschland schafft sich ab« etablierte sich ein Diskurs rund um »Erinnerungskultur für Muslime«.
Während der Durchführung von erinnerungspolitischen Programmen fiel auf, dass Muslim*innen sich eher mit jüdischen Opfern als mit den deutschen Täter*innen identifizierten.
Seit diesem nimmt Erinnerungspolitik eine repressive Rolle im Umgang mit insbesondere muslimischen Geflüchteten ein. Infolgedessen wurden Programme entwickelt, die speziell auf Muslim*innen fokussiert sind und von den vermeintlich geläuterten Deutschen durchgeführt werden. Während der Durchführung der Programme fiel auf, dass Muslim*innen sich eher mit den jüdischen Opfern als mit den deutschen Täter*innen identifizierten. Eine Dynamik, die nicht mit der deutschen Sicht auf den Islam und dem eigenen Selbstbild übereinstimmt.
Dass häufig genau eben diese Muslim*innen oder ihre Familien vor Anschlägen und Bomben der Islamisten und den Drohnen ihrer Feinde fliehen mussten, wird unter den Tisch fallen gelassen. Stattdessen wird vor einer »Islamisierung« gewarnt, welche das «christlich-jüdische« Abendland bedrohe.
Politische Deutungsansprüche
Mit der dialektischen Wirkung der Singularität können Vergleiche sowohl als Relativierung als auch als Kontextualisierung gewertet werden. Besonders deutlich wird dies, wenn nach den Lehren des Holocausts gefragt wird. In einem Projekt der Aktion Sühnezeichen Anfang der 2000er äußerten vor allem türkische Frauen ihre Sorgen vor dem eskalierenden Rassismus: »Wir fragten uns, ob sie uns auch so etwas antun könnten, ob wir uns in der gleichen Lage wie die Juden wiederfinden würden«. Haben sie damit den Holocaust relativiert?
Das Magazin Jewish Currents weist darauf hin, dass das deutsche Ringen um Erinnerung und »das heutige Deutschland ein wichtiges Schlachtfeld im Kampf um die Bedeutung des Jüdisch-seins an sich geworden ist, mit Konsequenzen für Palästinenser*innen auf der ganzen Welt.«
Denn der Doppeldeutigkeit von Relativierung und Kontext fallen auch Juden und Jüdinnen zum Opfer, und es wird, falls nötig, in die psychopathologische Trickkiste gegriffen. Links-zionistischen, säkularen und antizionistischen Juden und Jüdinnen wird von den Nachfahren der Täter »jüdischer Selbsthass« angedichtet, gar Antisemitismus vorgeworfen, stellen sie einen genuin jüdischen Staat infrage. Tatsächlich ist die Verweigerung gegenüber Differenzierung ein effektiver Weg, um das Ringen um die Lehren des Holocaust in deutscher Hand zu behalten: Es wird nicht mehr unterschieden, wer was in welchem Kontext sagt, geschweige denn was die Intention ist. Die Unterscheidung zwischen jüdischem, linkem, universalistischem und islamistischem Antizionismus wird ebenso beiseite gewischt wie die Frage nach instrumentalisierter Schuld der Deutschen.
Die NS-Überlebende Dorothea Buck sagte mal »Solange wir noch miteinander reden, bringen wir uns nicht um.« Doch heute werden Bündnisse zwischen den Opfern deutscher Politik verhindert, sie scheinen politisch wie gesellschaftlich kaum gewollt: Antisemitismusbekämpfung und Antirassismus werden einander gegenübergestellt, Diskursräume geschlossen und eine politische Lösung des Konflikts als Terrorverharmlosung diffamiert. Die Definition, was die Lehren aus der deutschen Geschichte sind, bleiben in deutscher, staatlicher Hand.