Auf der Suche nach Einheit
1923 versuchten Kommunist*innen zum ersten Mal, jüdische und arabische Linke zusammenzubringen. Geschichte der Linken in Palästina (Teil 1)
Von Anselm Schindler
Am 7. Oktober begehen palästinensische Milizionäre mehrere Massaker in den an den Gaza-Streifen angrenzenden israelischen Gebieten. Sie töten neben bewaffneten israelischen Kräften vor allem Zivilist*innen. An dem Angriff sind neben der Hamas und dem Palästinensischen Islamischen Jihad auch Kämpfer*innen der linken PFLP (Volksfront zur Befreiung Palästinas) und ihrer Abspaltung DFLP (Demokratische Front zur Befreiung Palästinas) beteiligt. PFLP und DFLP hatten einst eine große Strahlkraft für die Menschen in der Region, aber auch für Linke aus aller Welt. Mittlerweile sind die beiden Organisationen zu recht kleinen Kampfparteien zusammengeschrumpft. Einst standen sie dem politischen Islam feindlich gegenüber, jetzt führen sie gemeinsame Aktionen mit der Hamas durch, was sie mit der eigenen Marginalisierung rechtfertigen. Aber wie konnte es eigentlich so weit kommen?
Aufstieg und Niedergang der palästinensischen Linken sind eng mit der besonderen Geschichte des Nahen Ostens verknüpft. Die ersten linken Organisationen in Palästina werden Anfang des 20. Jahrhunderts von jüdischen Emigrant*innen aus Europa und Russland gegründet. Von denen sich viele als Sozialist*innen verstanden und in jüdischen Massenorganisationen wie Poale Zion (Arbeiter Zions) organisiert waren. Poale Zion hatte sich 1901 vom Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund (oft auch einfach Bund genannt) abgespalten, weil dieser den Zionismus ablehnte und die Emanzipation der Jüdinnen und Juden als Teil der Arbeiter*innenbewegung in Europa erkämpfen wollte. Die Strömung des Zionismus gewann in der jüdischen Community in Osteuropa an Bedeutung, weil es vermehrt zu antisemitischen Pogromen kam. Erstmals gab es mit dieser Strömung eine eigenständige jüdische Nationalbewegung.
Wie auch der Kapitalismus kam der Sozialismus als europäischer Export nach Palästina.
Die ersten jüdischen Kommunen in Palästina, die auch Kibbuzim genannt werden, entstanden 1910. Sie standen anders als die jüdisch-israelischen Siedlungen heute kaum im Widerspruch zur dort lebenden arabischen Bevölkerung, da es weniger Konkurrenz um Land gab. Die Kibbuzim waren gleichzeitig auch die ersten organisierten sozialistischen Keimzellen der Linken im Agrarland Palästina. Wie auch der Kapitalismus kam der Sozialismus als europäischer Export nach Palästina.
Linke Jüdinnen und Juden
Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, verlief eine Front dieses Krieges durch Palästina. Es war damals Teil des Osmanischen Großreiches. Dieses Reich überlebte das Ende des Weltkriegs nicht, war es doch mit dem Deutschen Kaiserreich verbündet, das bekanntlich zu den Verlierern gehörte. Das britische Empire nahm die wichtigsten Städte Palästinas ein. Der britische Premierminister erklärte bereits 1917 seine Unterstützung für einen jüdischen Staat in diesem Gebiet.
Das Ende des Ersten Weltkriegs und die deutsche Niederlage sorgten für einen Zuwachs des Antisemitismus. Durch die Dolchstoßlegende und antisemitische Erklärungen für die wirtschaftlichen Krisen und das Elend der Bevölkerung in den 1920ern wurde der Hass auf Jüdinnen und Juden zu einer regelrechten Volksbewegung im deutschsprachigen Raum. Die vermehrten Pogrome führten zu einer großen jüdischen Auswanderungswelle nach Palästina. Die zum Ende des Ersten Weltkriegs in Russland an die Macht gekommenen Bolschewiki betrachteten diese Entwicklung kritisch, sie arbeiteten eng mit dem jüdischen Arbeiterbund zusammen, der den Zionismus ablehnte. Die kommunistische Bewegung hoffte auf eine Emanzipation der Jüdinnen und Juden in Europa durch die Revolution und lehnte deshalb eine jüdische Nationalbewegung, die einen eigenen Staat errichten wollte, ab. Wegen des Zionismus-Streits kam es auch in Palästina zur Spaltung der jüdisch-kommunistischen Poale Zion. Es entstanden ein linkszionistischer Teil und ein bolschewistischer Flügel, der der Kommunistischen Internationale (Komintern) nahestand. Diese Abspaltung positionierte sich klar antizionistisch.
Jüdische und arabische Palästinenser*innen sollten zwar vordergründig jeweils »ihre« Reaktionäre bekämpfen, gleichzeitig war das Ziel der Partei gemeinsam auf die sozialistische Revolution hinzuarbeiten.
Aus der antizionistischen Abspaltung der Poale Zion entstand, nicht zuletzt auch auf Anweisung Moskaus, 1923 die Palästinensische Kommunistische Partei (Miflagah ha-Komunistit ha-Palestinaiit, PKP). Sie trug als erste linke Organisation Palästina im Namen. Das Programm: Jüdische und arabische Palästinenser*innen sollten zwar vordergründig jeweils »ihre« Reaktionäre bekämpfen, also mit dem britischen Imperialismus kollaborierende Zionist*innen und arabische Feudalherren – gleichzeitig war das Ziel der Partei gemeinsam auf die sozialistische Revolution hinzuarbeiten. Es gab da nur ein Problem: Als die PKP gegründet wurde, fanden sich in ihren Reihen keine Araber*innen sondern ausschließlich jüdische Mitglieder, denen es schwer fiel, der arabischen, teils sehr ländlichen, patriarchal und feudal geprägten Bevölkerung, den Sozialismus schmackhaft zu machen. Jüdische Siedler*innen und ortansässige Araber*innen trennten Welten – die PKP setzte es sich zum Ziel, diese Welten zusammenzuführen.
Jenseits der Nationalitäten
Mit spärlichem Erfolg: Zwei Jahre nach Gründung der PKP waren erst zehn Araber der Partei beigetreten, was auch aus Moskau kritisiert wurde. Die Komintern befahl eine raschere »Arabisierung« der Partei in einem Land, in dem zu diesem Zeitpunkt die jüdischen Einwohner*innen nicht einmal ein Viertel der Bevölkerung ausmachten. »Erst Ende der 1920er, Anfang der 1930er gab es in der PKP eine arabische Mehrheit«, erklärt Jules El-Khatib. Er ist deutsch-israelischer Staatsbürger und schreibt für Medien wie Die Freiheitsliebe und das Jacobin Magazin auch immer wieder über Palästina und Israel. Erschwert worden sei die Arbeit, weil die Partei von der britischen Besatzung verboten wurde, so El-Khatib im Gespräch mit ak.
Zudem machten vermehrt religiöse und nationale Konflikte der gewünschten Klassensolidarität unter den beiden Gruppen einen Strich durch die Rechnung. Die von der Kolonialmacht und zionistischen Verbänden orchestrierte Einwanderung nach Palästina führte zu immer größerem Unmut. Die Idee des gemeinsamen Kampfes für den Sozialismus wurde im Geschrei reaktionärer Muslim*innen und rechtszionistischer Siedler*innen erstickt. 1929 eskalierte der Streit um die Klagemauer in Jerusalem, die sowohl für Judentum als auch den Islam ein wichtiger Bezugspunkt ist. Aktivist*innen der PKP verteilten an der Mauer pazifistische Flugblätter, die zur Geschwisterlichkeit der Völker aufriefen, aber die aufgebrachten Gruppen wollten diese Stimmen nicht hören.
Angestachelt wurden sie von religiösen Führern wie dem Großmufti von Jerusalem, Mohammed Amin al-Husseini. Ihm gelang es, den Konflikt als religiösen Kampf erscheinen zu lassen. Das Narrativ des Großmufti besiegte den Internationalismus der PKP, der die Einheit der Werktätigen predigte. In den Unruhen starben mehr als 200 Menschen.
Ein Kommuniqué des hochrangigen PKP-Revolutionärs Joseph Berger an die Komintern sah die Ursache der Unruhen auch in der Unzufriedenheit der arabischen Unterklassen aufgrund der sich verschlechternden ökonomischen Situation. Geistliche und die britische Kolonialverwaltung hätten, so Berger, den Frust in antijüdische und antimuslimische Wut umgeleitet. Keine abwegige Erklärung, aber auch eine mit der es sich Berger und seine Genoss*innen einfach machten. Weil es die unbequeme Wahrheit aussparte, dass der Hass in der Bevölkerung fest verankert war. So wurden nicht nur jüdische Siedler*innen angegriffen, sondern auch langansässige palästinensische Jüdinnen und Juden, Mizrachim genannt. Die Ausschreitungen hatten auch eine antisemitische Motivation und sorgten auf zionistischer Seite für harte Reaktionen: Die Hagana, eine zionistisch-jüdische Miliz, wurde weiter ausgebaut und militärisch aufgerüstet. Aus der Hagana ging mit Irgun eine rechte Abspaltung hervor, die in den folgenden Jahren zahlreiche Terroranschläge und Massaker gegen die palästinensische Bevölkerung beging.
Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland 1933 stieg die Zahl der Einwander*innen, die vor Antisemitismus flohen, stark an. Die Auseinandersetzungen zwischen arabischer und jüdischer Bevölkerung nahmen daraufhin zu. 1936 begann der »Arabische Aufstand in Palästina«. Er richtete sich gegen die Einwanderung im Sinne des Zionismus und die britische Kolonialmacht. Er dauerte bis 1939 an. Arbeiter*innen und Angestellte streikten und legten die Städte lahm. »Die Kommunist*innen haben den Generalstreik damals unterstützt« erklärt El-Khatib die Rolle der Linken in dem Aufstand. »Die PKP war zwar keine Massenpartei, aber hatte zumindest in den größeren Städten einen gewissen Einfluss, vor allem in Haifa und Nazareth aber auch in Gaza.« Die Forderungen des Aufstandes waren simpel: Einwanderungsstopp, kein weiteres palästinensisches Land an Siedler*innen und eine demokratische palästinensische Regierung – die Aktionen richteten sich auch klar gegen die britische Verwaltung.
Die Spaltung der PKP
Die britische Kolonialmacht wurde deshalb zum Ziel, weil sie eine Teilung Palästinas vorbereitete, die einen jüdischen Siedlungsstreifen an der Mittelmeerküste vorsah. 1939 nahmen die Brit*innen den Teilungsplan zurück und begrenzten die jüdische Einwanderung. In der PKP sorgte das für heftige Flügelkämpfe, der Spagat, die arabischen Aufstände mit ihrer antizionistischen Stoßrichtung und gleichzeitig aus Europa fliehende Jüdinnen und Juden zu unterstützen, wurde zunehmend aufreibend. Viele Jüdinnen und Juden in der Partei waren gegen die restriktive Einwanderungspolitik. Deshalb bildete sie eine eigene Fraktion innerhalb der Partei. Obgleich dieser nicht alle jüdischen Parteimitglieder beitraten, zeigte sich, dass die Zusammenarbeit arabischer und jüdischer Kommunist*innen unter den spezifischen Bedingungen Palästinas zunehmend kompliziert wurde.
Der erste Gehversuch des gemeinsamen Kampfes war Geschichte.
Das Bündnis der Sowjetunion mit Großbritannien im Kampf gegen Nazideutschland mischte die Karten für die Linke in Palästina zwar neu, die PKP setzte ihre antizionistische und antibritische Propaganda zeitweilig aus. Doch da war es bereits zu spät. 1943 spaltete sich die PKP entlang der arabischen und jüdischen Fraktionen. Der erste Gehversuch des gemeinsamen Kampfes war Geschichte.
Zur selben Zeit organisierte der NS-Staat und seine Verbündeten in Europa den industriellen Massenmord an der jüdischen Bevölkerung. Die anschließende massenhafte Einwanderung durch Jüdinnen und Juden wird den Nahen Osten verändern und die palästinensische Linke vor ein neues Dilemma stellen.