Wut und Hass
Aufgeblättert: »Die leeren Schränke« von Annie Ernaux
Von Kim Wöller
Noch nie hat die deutsche Leserin eine so wütende und hasserfüllte Annie Ernaux erlebt wie in »Die leeren Schränke«, ihrem Debüt, das nun auch auf Deutsch vorliegt: »Ich kotze auf sie, auf die Kultur, auf alles, was ich gelernt habe. Von allen Seiten gefickt…«, heißt es beispielsweise an einer Stelle. Abgesehen von dieser Wut und einem noch gänzlich anderen Stil ist aber in dem Roman schon alles enthalten, was die späteren Bücher der Nobelpreisträgerin von 2022 ausmacht: die Beschreibungen ihrer Krämereltern und des proletarischen Milieus, der Bildungsaufstieg durch den Besuch des Gymnasiums und der damit verbundene Übergang von der einen in die andere Klasse. Und vor allem das Gefühl der Entfremdung, weder dem Bürgertum noch der Arbeiterklasse anzugehören. Die äußere Handlung besteht darin, dass die Protagonistin, die 20-jährige Studentin, die in diesem Buch noch einen anderen Namen trägt als in den späteren, streng autobiografischen Texten, nach dem Besuch bei einer Engelmacherin auf den Abgang ihres Fötus wartet; der Vater aus gutem Hause hatte sie sofort verlassen. Dieses einschneidende Erlebnis ist Anlass für einen inneren Monolog über ihre Kindheit, ihre Jugend und darüber, wie sie in diese Situation geraten ist. Immer wieder kreisen die Gedanken in verschiedenen Facetten um die oben genannten Themen. Manchmal fühlt man sich an die Tiraden eines Thomas Bernhard erinnert. Wer die anderen Bücher von Ernaux mag, sollte auch dieses lesen – gerade weil es sich stilistisch noch sehr von den späteren autofiktionalen Werken unterscheidet.
Annie Ernaux: Die leeren Schränke. Roman. Suhrkamp, Berlin 2023. 218 Seiten, 23 EUR.