Anarchismus im Kaukasus
Aufgeblättert: »Unherrschaft und Gegenherrschaft« von Florian Mühlfried
Von Andreas Pavlic
Der in Tiflis lehrende Sozialanthropologe Florian Mühlfried geht in seinem Essay der Frage nach Herrschaft, Gegenherrschaft und – wie er es nennt – der Unherrschaft nach. Am Beispiel der Kaukasusregion diskutiert er, ohne zu verklären, die sozialen Praxen, Regeln und Strukturen segmentärer Gesellschaften – also solcher, die sich bewusst ohne zentralisierte oder staatliche Institutionen gestalten. Ausgangspunkt ist das Misstrauen gegenüber Herrschaft. Eine Möglichkeit, sich dieser zu entziehen, bildet die Flucht in abgelegene Gebiete, in die Berge oder Hochtäler. Der daraus resultierenden Eigenständigkeit und Selbstregulierung spürt Mühlfried bis in die Gegenwart nach. Im Kapitel Zeitvergeudung geht er beispielsweise auf das in Georgien weitverbreitete und ambivalente System der Supra, einer Form der Gastfreundschaft und Feierlichkeit, ein. Es entspricht in etwa »unserer« Vorstellung von mediterraner Lebensart. Diese »schändlichen Bräuche« widersprechen dem proletarischen Arbeitsethos und hatten in der Sowjetzeit eine widerständige Funktion. Supra, so der Autor, steht für eine andere Ökonomie, ist mehr eine Irritation als ein Ideal. Mühlfried analysiert und zieht seine Schlüsse anhand konkreter Ereignisse und Phänomene. Er unterscheidet das Streben nach einer Gegenherrschaft als liberale Strategie und der Unherrschaft als anarchistische Praxis der Negation, die auf einer immanenten Herrschaftserfahrung fußt. Seine Auseinandersetzung ist neben denen von David Graeber, Thomas Wagner und Rüdiger Haude ein weiterer wichtiger Beitrag, um »dem Anarchismus frischen Atem einzuhauchen«.
Florian Mühlfried: Unherrschaft und Gegenherrschaft. Matthes & Seitz, Berlin 2022. 125 Seiten, 15 EUR.