Als sich alles ewig anfühlte
Pop, migrantisiertes Leben und eine intensive Freundschaft in den USA der 1990er Jahre: Hua Hsus witzig-melancholisches Memoir »Stay True« ist auf Deutsch erschienen
Von Isabella Caldart
Es ist leider unmöglich, einen Text über »Stay True« von Hua Hsu zu schreiben, ohne den Schicksalsschlag zu verraten, der ihn nach zwei Dritteln des Buchs trifft: Der beste Freund des Autors und Ich-Erzählers wird ermordet. Ein Verlust, der vorher nicht angedeutet wird, auch wenn man ihn dem ganzen Text auf gewisse Weise anmerkt, immerhin ist er die zentrale Motivation für Hsus Memoir. Aber der Reihe nach.
Hua Hsu, 1977 geboren, wächst in Cupertino bei San Francisco als Kind taiwanesischer Einwanderer*innen auf, wobei seine Eltern »nicht aufgrund eines konkreten Traums in die Vereinigten Staaten (zogen), sondern nur wegen der Chance auf etwas anderes«. Als Asian American aufzuwachsen, gehört zu den prägenden Erfahrungen, die Hua macht. Seine Kindheit findet teilweise auch in Taiwan statt; später zieht der Vater zurück und schickt dem Sohn lange Faxe mit Ratschlägen und Gedanken in die USA. Er selbst definiert sich als Heranwachsender aber primär über seinen Musikgeschmack. Und nicht nur darüber, was er mag (Nirvana), sondern vor allem über all die Phänomene seiner Zeit, die er verachtet: Pearl Jam, Beverly Hills, 90210 oder George Bush. Über sie schreibt er wütende Texte in seinem eigenen Zine für eine kleine Leser*innenschaft.
Dieser »Quer-durchs-Gemüsebeet-Ansatz der Negation«, wie es in der Übersetzung von Anette Grube heißt, ist nicht nur der krampfhafte Versuch, cool zu sein – er hat auch etwas Elitäres. Etwa wenn er zu Collegezeiten mit seinem besten Freund Ken im Auto sitzt, dieser eine CD der Dave Matthews Band einlegt und Hua schnell das Fenster hochkurbelt »für den Fall, dass jemand an einer Ampel neben uns stehen blieb«.
Fugees und AOL
Überhaupt Ken: Die Freundschaft zwischen den beiden jungen Studenten beginnt so, wie die besten Freundschaften eben manchmal beginnen – mit einer großen Abneigung, zumindest seitens Hua. Ken ist zwar auch Asian American, aber als japanischer Amerikaner, dessen Familie schon seit Generationen in den USA lebt, hat er fundamental andere Erfahrungen gemacht als Hua. »Wir sehen alle gleich aus«, so Autor Hsu, »bis man merkt, dass wir es nicht tun, und dann meint man, dass niemand andersartiger sein kann«. Noch größer aber ist der Unterschied ihrer Persönlichkeiten und Präferenzen: Während Hua sich von allem, was in seinen Augen zum Mainstream gehört, abgrenzt, trägt Ken Abercrombie & Fitch, hat eine weiße Freundin, ein großes soziales Umfeld. Als Ken eines Tages Hua bittet, ihm beim Shoppen zu helfen, ist das der Beginn einer tiefen Verbundenheit. Selbstironisch sagt Hsu rückblickend: »Es war ein Zeichen von Persönlichkeitswachstum, dachte ich, dass ich mit jemandem befreundet sein konnte, der Pearl Jam so sehr mochte.«
»Stay True«, bleib dir treu, ein Satz, den sich Ken und Hua zum Abschied immer sagten, ist über weite Strecken ein klassisches Coming-of-Age-Buch, in dem die eigene Identitätsfindung, die Frage nach der Bedeutung von Authentizität und vor allem die Freundschaft im Vordergrund stehen, und das in einem dezidierten 1990er-Jahre-Setting: Kurt Cobains Suizid, Musik von den Fugees, eine Omnipräsenz von Faxgeräten, die Anfänge von AOL, gebrannte CDs, MTVs Real World. Das alles gehört zur Kulisse von Kens und Huas Freundschaft. Eine der vielen Stärken von »Stay True« ist aber, dass Hsu gar nicht erst versucht, bei den Leser*innen Nostalgie für diese Zeit zu wecken, sondern sie auf warmherzige und unaufgeregte Weise dank zahlreicher Tagebucheinträge lebendig schildert.
Sich zurückschreiben
In dieses dennoch recht gewöhnliche Leben eines Collegestudenten kommt 1998 mit der Ermordung Kens bei einem Raubüberfall ein abrupter Cut. Als beim Redaktionstreffen einer asiatisch-amerikanischen Zeitung darüber diskutiert wird, ob der Mord wirklich ein Fall von »zur falschen Zeit am falschen Ort« oder doch ein Hassverbrechen war, wird Hua sauer: »Es war keins (…) Es war einfach Scheiße, die passiert ist.« Es ist unmöglich zu wissen, ob Kens ostasiatisches Aussehen zu dem Verbrechen beigetragen hat oder nicht. Hua, für den sich seine und Kens Identität aus tausenden Mosaikstücken zusammensetzen, lehnt diese Reduzierung strikt ab. Sie ist auch kein geeignetes Ventil für die Trauer um seinen Freund, für die eigenen Schuldgefühle. Kann das in seinen Augen simplifizierende Label Hassverbrechen ausreichen, um die Vielschichtigkeit seiner Emotionen zu repräsentieren?
»Ich griff nach einem Stift und versuchte, mich in die Vergangenheit zu schreiben.« Jahrzehnte nach dem Mord an Ken setzt sich Hua Hsu hin, um jene Zeit und Beziehung in »Stay True« in Worte zu fassen. Kein einfaches Unterfangen – wie beschreibt man so viele Jahre später eine Freundschaft, die selbst nur drei Jahre andauerte? »Stay True« ist als Memoir geführt und gewann 2023 in dieser Kategorie auch den Pulitzer-Preis. Die Grenze zur Fiktion aber ist fließend – »Stay True« ist mehr als ein faktischer Bericht. Es ist vor allem das Gefühl, diese Erinnerung, in die sich Hua Hsu schreibt, die unsentimentale Erzählung einer Freundschaft zu einer Zeit im Leben, da sich alles ewig anfühlt.
Hua Hsu: Stay True – Ein Memoir über Freundschaft. aki Verlag Zürich, 2024. 232 Seiten, 22 EUR.