Eine Prise Leid
Von Elena Schmidt
Trinkst du Alkohol? Zu viel vielleicht? Dann geht das niemanden in deiner Therapie etwas an. Wie steht es um dein Verhältnis zu Familie? Zu Geschlecht? Sexualität? Egal, Fragen dazu solltest du sowieso nicht ehrlich beantworten. Und wenn du suizidal bist, solltest du das in der Therapie unter keinen Umständen besprechen.«
Ratschläge dieser Art zum Therapiebeginn mögen kontraproduktiv klingen, für trans Leute können sie aber lebensrettend sein. Denn das deutsche Gesundheitssystem verlangt von ihnen, eine mehrere Monate – manchmal Jahre – dauernde Zwangstherapie zu durchlaufen, in der geklärt werden soll, ob sie denn tatsächlich trans seien. Von der dabei gewonnenen »Expertenmeinung« wird dann abgeleitet, ob ihnen wichtige medizinische Behandlungen weiter vorenthalten werden oder nicht.
Wie muss ein Mensch aus dieser Sicht sein, um trans zu sein? In erster Linie muss er leiden. Genug, um sich als behandlungswürdig zu erweisen. Aber auch nicht so sehr, dass eine Gelegenheit entstehen könnte, den Fokus anders zu legen. Die Richtlinien besagen nämlich, dass vor einer medizinischen Behandlung – vor Medikation, operativen Maßnahmen, logopädischem Training – sämtliche »Komorbiditäten« entweder ausgeschlossen oder stabilisiert werden müssen.
Das bedeutet konkret, dass ein trans Mann, der wegen seiner zu hohen Stimme suizidal ist, kein stimmsenkendes Testosteron verschrieben bekommen darf, bevor er die Suizidalität überwunden hat. Mit bemerkenswerter Ignoranz wird systematisch von Patient*innen erwartet, dass sie die Folgen eines Problems beseitigen, ohne die Ursache anzurühren. Diese Ignoranz ist der Grund, warum es für trans Menschen in den meisten Fällen von Vorteil ist, ihre Therapiepersonen anzulügen. Statt die Wahrheit zu erzählen, ist eine Klischeebiographie abzuspulen, die die Chancen erhöht, jene Hilfe zu erhalten, die eigentlich benötigt wird.
Um eine überzeugende Transbiographie zusammenzuköcheln, werden diverse Zutaten benötigt: Geschlechterklischees im Kindesalter, soziale Isolation in der Jugend sowie ein kategorisches Fehlen jeglicher positiver Sexualitätserfahrungen. Wer als Kind nicht mit Puppen gespielt hat, kann keine trans Frau sein. Wer nicht der cisgeschlechtlichen Norm entspricht, kann unmöglich Freund*innen gehabt haben. Und Gott gnade der trans Person, die nicht beim bloßen Gedanken an ihre Genitalien untermalt von Violinenklängen ohnmächtig wird.
In einem gewissen Rahmen darf das Rezept variieren, eine Kernzutat darf aber nie fehlen: die Prise Leid, nicht zu viel und nicht zu wenig. Ein trauriges Einzelschicksal, an dem niemand außer seinem Opfer die Schuld trägt – das ist die Geschichte, die das Gesundheitssystem hören will.
Alle Mitmenschen von der Verantwortung am eigenen Leid freizusprechen, wird so zur Voraussetzung der Behandlung. Die wichtigste Diagnose lautet: Die Gesellschaft funktioniert einwandfrei, lediglich die trans Person macht Probleme mit ihrer Andersartigkeit. Der gesamte Lebenslauf wird systematisch durch diese Formpresse gejagt, ganz gleich, ob das Geschlecht auch nur im Entferntesten etwas mit den jeweiligen Schwierigkeiten zu tun hat oder nicht. Ein solches Schauspiel monatelang Menschen darzubieten, die eine Macht und Gewalt über den eigenen Körper haben, von der die übergriffigsten Stalker*innen nur träumen können, geht an niemandem spurlos vorbei.
Trans Menschen haben am Ende dieser Prozedur ihrer Außenwelt und sich selbst ein Narrativ wiedergegeben, das ihre Existenz zur Störung einer funktionierenden Ordnung erklärt. Ein Narrativ, das Konformität vor medizinische Hilfe und ästhetische Normen vor Selbstbestimmung stellt. Es geht bei diesem erzwungenen Schauspiel vor allem um eines: die Stabilisierung der mehrheitsgesellschaflichen Norm. Einer Norm, deren Macht davon abhängt, dass Abweichungen sich selbst als solche markieren und als störend definieren, anstatt sie zu hinterfragen.