Von Schlachtbank zu Schlachtbank
Joseph Ponthus erzählt vom Alltag als Zeitarbeiter in Fisch- und Fleischfabriken – zersetzend, poetisch und persönlich
Die Literaturwissenschaftlerin Elke Brüns hat 2008 in einem von ihr herausgegebenen Sammelband zum Thema »Ökonomien der Armut« für einen »Social Turn« in der Literatur plädiert. Über zehn Jahre später, so scheint es, hat diese Wende tatsächlich stattgefunden: Insbesondere sozialkritisch-autobiografische Literatur erlebt seit einiger Zeit einen bemerkenswerten Aufschwung. Autor*innen wie Didier Eribon, Annie Ernaux, Christian Baron oder Deniz Ohde haben sehr persönliche Prekarisierungs-, Marginalisierungs-, Klassen- sowie Auf- oder Abstiegserfahrungen in Formen gebracht, die Kunstfertigkeit und Glaubwürdigkeit verbinden und in denen das literarisch überformte Ich zum Garanten der Authentizität wird.
In diese (neue) Tradition kann man auch Joseph Ponthus’ Text »Am laufenden Band« einordnen. Darin erzählt der 1978 geborene und im Februar 2021 an Krebs verstorbene französische Autor von seiner Tätigkeit in Fischfabriken und Schlachthöfen, die er zweieinhalb Jahre als Zeitarbeiter ausführte. »Am laufenden Band«, das bereits 2019 auf Französisch erschien und seit vergangenem Jahr auch in deutscher Übersetzung vorliegt, wurde in Frankreich mit verschiedenen Literaturpreisen ausgezeichnet. Einer der Gründe dürfte in der außergewöhnlichen Konzeption des Textes liegen, der als Versroman eine Art Hybrid zwischen Lyrik und Prosa ist und so auf ganz eigenwillige Weise die Zeit- und Verwertungsökonomie moderner Fabrikarbeit vermittelt: »Von heute auf morgen vom Rhythmus der Fabrik zu dem der / Sozialarbeit zu wechseln / Ist als wechselte man von einem Arbeitsbegriff zu einem anderen / Und zwar im marxistischen Sinn des Wortes / Kaffee Kippe Pause Kaffee Kippe Pause ›Austausch unter Kollegen‹ / Kippe Kaffee und so weiter Pause«.
Ohne Punkt und Komma
Joseph Ponthus hat mit der Versform eine ungewöhnliche Form für den harten, zum Teil abstoßenden Alltag in der Fleischindustrie gewählt: Die Versform führt zur Rhythmisierung der Lektüre, transportiert die Leser*innen gewissermaßen »am laufenden Band« durch den Fabrikalltag, zu dem die hohe lyrische Form zugleich einen spannungsvollen Kontrast bildet. Unwillkürlich muss man an die Tradition der großen Versepen denken: die Irrfahrten in Homers »Odyssee« oder die Gänge durch die Kreise der Hölle in Dantes »Göttlicher Komödie«.
Die Versform führt zur Rhythmisierung der Lektüre, transportiert die Leserinnen gewissermaßen »am laufenden Band« durch den Fabrikalltag.
Ponthus bricht seine Rede nicht nur in Verse, er verzichtet dabei auch auf jegliche Form der Interpunktion: Ohne Punkt und Komma hastet das lyrische Ich von Zeile zu Zeile, immer unter Zeitdruck, immer befangen in zersetzender Monotonie, zugleich konsequent im Bestreben, den Widersprüchen der eigenen Existenz Ausdruck zu verleihen und das Wesentliche auf konzentrierte Art sprachlich einzufangen: »Im Laufe der Stunden und Tage setzt sich das Bedürfnis das zu / beschreiben hartnäckig fest wie eine Gräte im Rachen / Nicht die Eintönigkeit der Fabrik / Sondern ihre paradoxe Schönheit«.
Die Lyrisierung und Verknappung des Textkörpers ist zugleich eine Entscheidung gegen die Form des großen Gesellschaftsromans – ein Genre, das in Frankreich auf eine lange Tradition zurückblickt und sich mit Namen wie Balzac und Zola oder, in jüngerer Zeit, Virginie Despentes verbindet. »Am laufenden Band« wartet nicht mit einem opulenten und differenzierten Spektrum an Figuren auf und bietet weder einen Querschnitt durch die Gesellschaft noch das Porträt einer bestimmten Schicht oder eines speziellen Milieus. Vielmehr bleibt der Text streng auf die Perspektive eines einzelnen Subjekts bezogen, die – vielleicht – noch nicht einmal Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt. Ponthus’ Buch ist kein Sozialroman, sondern der poetische Monolog eines autobiografischen Ichs, das den Leser*innen einen Einblick hinter die Kulissen des im 21. Jahrhundert prekär gewordenen Bildungsbürgertums gibt.
Abrechnung mit der Fabrikarbeit
Kulturelles und symbolisches Kapital, über das Ponthus als studierter Literatur- und Sozialwissenschaftler verfügt (was er im Text mal mehr, mal weniger subtil deutlich macht), sind längst keine Garanten mehr für finanzielle Sicherheit und sozialen Aufstieg. Entsprechend bildet der Spagat zwischen der buchstäblichen (Selbst-)Ausschlachtung als Zeitarbeiter und den eigenen literarischen Ambitionen, denen das Ich nach Schichtende in der Fleischfabrik nachzukommen versucht, ein Leitmotiv des Buches – oft begleitet von intertextuellen Verweisen und zahlreichen Literaturzitaten: »›Ich schreibe wie ich spreche wenn der Feuerengel des Gesprächs / mich zum Propheten macht‹, schrieb in etwa ich weiß nicht mehr wo / Barbey d’Aurevilly / Ich schreibe wie ich denke an meinem Förderband schwirre alleine / unbeirrbar durch meine Gedanken / Ich schreibe wie ich arbeite / Am Fließband / Am laufenden Band«.
Das ist ohne Zweifel sehr originell, kenntnisreich und eigenwillig. Joseph Ponthus hat in seinem Versroman eine sehr besondere, eigenständige Stimme entwickelt, die man so vielleicht noch nicht gehört hat und der zu folgen sich fraglos lohnt. Trotzdem kann man sich auch an dem Text stoßen, vor allem an der Tendenz zur Selbstbespiegelung, die sich fast zwangsläufig aus der strengen Monoperspektivierung und damit einhergehenden Dominanz des Ichs ergibt. Mitunter etwas bemüht wirken außerdem die beständigen Ausweise der eigenen Belesenheit. Mit zahlreichen intertextuellen Anspielungen und Zitaten großer Autor*innen (etwa Apollinaire, Arendt, Baudelaire, Beckett, Brecht, Céline, Dumas, Nietzsche, Proust…) wird recht offenkundig der Versuch unternommen, den Text mit dem europäischen Bildungskanon zu vernetzen. Ein offener Widerspruch entsteht dabei zwischen dem akademisierten Zielpublikum, das hier anvisiert wird, und der Widmung des Romans, den Ponthus »meinen Brüdern / den Proletariern aller Länder / den Analphabeten und den Zahnlosen« zueignet, »mit denen ich so viel / gelernt gelacht gelitten und gearbeitet habe«.
Am stärksten ist Ponthus’ Text dort, wo die bildungsbürgerliche Selbstvergewisserung in den Hintergrund tritt zugunsten einer ebenso rohen wie poetischen Abrechnung mit den Ausbeutungsmechanismen moderner Fabrikarbeit. »›Schluss für dich / Bis zum nächsten Mal‹, / Wie der Chef gesagt hat / Also einer der Chefs / An Chefs fehlt es nicht / Es fehlt an Arbeit / Es fehlt an Kohle / Solange es Zeitarbeit gibt / Ist der Schlusspunkt nicht gesetzt / Geht es weiter / am laufenden Band«.
Joseph Ponthus: Am laufenden Band. Aufzeichnungen aus der Fabrik. Aus dem Französischen von Mira Lina Simon und Claudia Hamm. Matthes & Seitz, Berlin 2021. 239 Seiten, 22 EUR .