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Von der Community über die Community

Der Afrozensus untersucht erstmals systematisch Schwarze Lebensrealitäten in der Bundesrepublik

Von Paul Dziedzic

Demonstrierende Menschenmenge mit mehren Pappschildern, Aufschrift auf einem: "I'd like to speak to the manager of Racism"
Die Mobilisierungen im Zuge des Black-Lives-Matter Sommers waren historisch betrachtet die größten schwarzen Proteste. Foto: Kofi Shakur

Der Black-Lives-Matter-Sommer 2020 war ein kleiner Wendepunkt: Er mobilisierte viele junge, Schwarze Menschen; ihre Wut auf den Rassismus in Deutschland erreichte selbst die weiß dominierte deutsche Öffentlichkeit. Anders als in vorherigen Jahren hatte die »Rassismus-gibt-es-nur-in-Amerika«-Fraktion einen schwereren Stand. Das dürfte sich nun verstärken. Denn Anfang Dezember ist die 300 Seiten lange Studie »Afrozensus« erschienen. Letzten Sommer, während der Proteste, füllten über 5.000 Schwarze, afrikanische und afrodiasporische Menschen in Deutschland die umfangreiche Umfrage aus, die von der Schwarzen Community unter der Ägide des Schwarzen Empowerment Projekts eoto e.V. aus Berlin organisiert worden war.

Ziel der Studie war laut Organisator*innen, Schwarze Lebensrealitäten in Deutschland anhand einer groß angelegten quantitativen und qualitativen Studie abzubilden. In Kooperation mit 15 Schwarzen Organisationen in sechs Bundesländern war die Umfrage auch mithilfe von Fokusgruppen entwickelt worden. Denn Daten zu den über eine Million Schwarzen, afrikanischen und afrodiasporischen Menschen in Deutschland gibt es nicht. Und es sollte auch nicht dem Staat überlassen werden, diese Daten zu erheben. Angesichts der deutschen Historie wäre dies ein gefährlicher Weg gewesen. Die Methode bestand aus einem Mix aus quantitativen und qualitativen Daten. Laut Organisator*innen war die Theorie hinter der Umfrage kritisch, emanzipativ, feministisch und dekolonial.

Die Daten, die es von offizieller Seite gibt, sind jene zum Migrationshintergrund, der diffus ist und kaum geeignet ist, spezifische Diskriminierungserfahrungen zu erfassen. Außerdem würde dieser Migrationshintergrund auch viele nicht erfassen, die im Afrozensus mitgedacht worden sind. Im Afrozensus wurden die Menschen selbst nach ihrer Bezeichnung gefragt – so konnten sie auswählen, ob sie sich als Schwarz, afrodeutsch oder afrikanisch (und mehr) bezeichnen. Die Studie ist auch ein Versuch, die Vielfaltsdimensionen innerhalb der Community zu verstehen. So waren relevante Dimensionen die geschlechtliche Identität, Beeinträchtigungen, das Einkommen oder die Zahl Schwarzer Elternteile. Entstanden ist dadurch ein differenziertes Bild, denn alle Fragen lassen sich auch intersektionell betrachten.

Diskriminierungserfahrungen

Diskriminierungserfahrungen wurden in 14 Lebensbereichen abgefragt, zu denen Öffentlichkeit, Wohnungsmarkt, der Gesundheitssektor, Behörden oder Banken gehörten. Die vielen Fragen ergeben ein Gesamtbild, das sich mit den Spezifika eines Anti-Schwarzen Rassismus (ASR) zusammenfassen lassen. Dazu gehört, dass Schwarze Menschen als fremd verortet, hypersexualisiert und (zum Beispiel durch Polizei und Behörden) kriminalisiert werden. So wurde gefragt, wie oft ihnen ungefragt in die Haare gefasst wurde (90 Prozent), ob sie rassistische Sexualisierung in Dating-Apps erleben (80 Prozent) oder wie viele Befragte ohne ersichtlichen Grund von der Polizei angehalten wurden ( 56 Prozent).

Eine Mehrheit der Befragten gab an, dass der Rassismus in den letzten fünf Jahren zugenommen hat. Über 60 Prozent beantworteten die Frage, wie sie die Entwicklung des Anti-Schwarzen Rassismus in den letzten fünf Jahren einschätzen, mit »zugenommen« und »stark zugenommen«. Diese Entwicklung bestätigte auch der Shitstorm, der bei der Veröffentlichung der Studie sowohl online als auch offline entstand. Die Hasskommentare bestätigten auch, dass die Befragten das Internet als Ort der rassistischen Diskriminierung sehen.

Im Bereich Gesundheit gaben 66 Prozent an, ihre Beschwerden würden von Ärzt*innen nicht ernst genommen. Dazu gibt es auch aus Großbritannien und den USA entsprechende Daten. Eine Ungleichbehandlung erlebten vor allem Teilnehmer*innen, die auch angaben, trans- oder intersexuell oder nichtbinär zu sein und/oder eine Beeinträchtigung zu haben. In der Schwarzen Theoriediskussion wurde das über die Jahrzehnte öfter bearbeitet. Die Zahlen stützen den Befund nun weiter. Die Forscher*innen haben ihre Umfrage durch Interviews mit Patient*innen, Pflegekräften, Ärzt*innen sowie Psycholog*innen und Psychotherapeut*innen vertieft. Schwarze Menschen, die im medizinischen und psychologischen Bereich arbeiten, beobachten, dass der Zugang zu medizinischer Versorgung bei vielen Schwarzen dadurch beeinträchtigt wird, dass Menschen schlechte Erfahrungen machen, wenn ihre Beschwerden zum Beispiel nicht ernst genommen werden.

Nicht ernst genommen werden auch rassistische Erfahrungen selbst; über 90 Prozent der Befragten gaben an, dass ihnen nicht geglaubt wird, wenn sie einen rassistischen Vorfall melden; 77 Prozent sagten, solche Vorfälle gar nicht erst zu melden. Von den 23 Prozent, die es tun, sind zwei Drittel mit dem Umgang unzufrieden. Das sind alles Erfahrungen, die gerade Schwarze Menschen in Deutschland nicht überraschen sollten. Und dennoch ist es eindringlich, das in einer so groß angelegten Studie in Zahlen vor sich zu sehen. Doch diese Zahlen sollen Schwarze Menschen auch ermächtigen: dadurch, dass ihre Erfahrungen validiert werden. Dies könne dabei helfen, aus dem Gefühl der Isolation in der Mehrheitsgesellschaft herauszutreten, betonten die Organisator*innen während der Vorstellung der Ergebnisse.

Gesellschaftliches Engagement

Es ging nicht ausschließlich um Diskriminierungserfahrungen. Rund 46 Prozent der Befragten gaben an, gesellschaftlich engagiert zu sein – die meisten von ihnen im sozialen Bereich. Gerade jene, die marginalisiert sind – zum Beispiel jene mit weniger Einkommen sowie trans- oder intersexuelle oder nichtbinäre Personen – sind aktiver als andere. Gefragt wurde auch, ob die Teilnehmer*innen ihre Familien im Ausland unterstützen. Menschen mit zwei Schwarzen oder afrodiasporischen Eltern helfen ihre Angehörigen öfter als Menschen mit einem Elternteil. Unterstützung wird gleichermaßen von Menschen in allen Einkommensklassen geleistet.

Das sind nur einige der Ergebnisse, die für Individuen und Schwarze Organisationen von Interesse sein könnten. Wie die Organisator*innen bei der Vorstellung der Ergebnisse betonten, würden die Daten den Schwarzen Organisationen helfen, die Vielfalt ihrer Communities besser zu verstehen und auch innerhalb der Selbstorganisation mehr Perspektiven zuzulassen und zu ermächtigen.

Die Faktoren, die den Rassismus in Deutschland abschwächen, führen die Befragten vor allem auf das Agieren Schwarzer Menschen selbst zurück.

Ein weiterer positiver Aspekt ist, dass die Faktoren, die den Rassismus in Deutschland abschwächen, aus Sicht der Befragten vor allem auf das Agieren Schwarzer Menschen selbst zurückführen sind. Ganz oben auf der Liste ist sozialer Protest, wie er sich im Zuge der Black-Lives-Matter-Bewegung artikulierte. 36 Prozent der Teilnehmenden gaben an, dass die Black-Lives-Matter-Bewegung des letztens Sommers, die zeitlich mit der Befragung zusammen fällt, den ASR etwas abgeschwächt hat. Das bestätigt, dass emanzipatorische Antworten in der Community im Mittelpunkt stehen.

Insgesamt haben sich die Organisator*innen viel Mühe gegeben. Der 300-seitige Bericht ist klar strukturiert. Für Eilige fasst die Webseite afrozensus.de Ergebnisse zusammen, umrahmt von aufwendigen Illustrationen und versehen mit narrativen Teilen aus den freien Antworten. Es ist viel Kreativität in die Darstellung der Daten geflossen, von denen es eine Menge gibt. Sie beziehen sich auf eine lange Schwarze Wissenstradition, wie zum Beispiel W.E.B. DuBois’ eindrucksvolle Flowcharts vom Anfang des 20. Jahrhunderts, die an Kunstwerke erinnern.

Die Ergebnisse des Afrozensus wurden schon über 6.000 mal aufgerufen, auch internationale Medien berichteten. Schließlich mangelt es an Daten zu Schwarzen Lebensrealitäten nicht nur in Deutschland, sondern in einem Großteil der Länder in Europa. Die Organisator*innen haben noch einiges vor; so soll die Studie in mehreren Sprachen übersetzt, und es sollen Folgestudien erstellt werden, um Veränderungen über einen längeren Zeitraum zu erfassen. Insgesamt aber kann eine Studie wie der Afrozensus nur ein Anfang sein – doch es ist ein wirkmächtiger.

Den Vollständigen Bericht gibt es hier (pdf-Direktdownload).