»Wir Sozialarbeiter*innen sind keine Polizist*innen«
Die Herausgeber Durrell M. Washington und Cameron Rasmussen über die Schwierigkeit, Abolitionismus und Soziale Arbeit zu verbinden
Interview: Deike Janssen
Soziale Arbeit wird allgemein als fürsorgliche Alternative zu Polizei und Justiz bei der Lösung sozialer Probleme dargestellt. Dabei wird oft übersehen, dass der Beruf eine eigene Tradition der Überwachung und Disziplinierung von Menschen hat. Das US-amerikanische Buch »Abolition and Social Work« liefert eine detaillierte Analyse, wie Soziale Arbeit mit des »strafenden Staates«, vor allem mit Polizei und Justiz, verstrickt ist. Im Interview stellen zwei der Herausgeber ihr Buch vor, das auch praktische Hinweise für eine an Solidarität und sozialer Gerechtigkeit orientierte Soziale Arbeit gibt.
In eurem Buch schreibt ihr, dass die Proteste im Jahr 2020 nach den Polizeimorden an George Floyd, Breonna Taylor und vielen anderen einer der Gründe für das Entstehen des Buches waren. Damals riefen viele »Abolish the Police«, aber auch »Fund Social Work«. Ihr habt das als Problem gesehen. Warum?
Durrell M. Washington: Es ging uns nicht darum, dass Soziale Arbeit nicht gut finanziert werden soll. Während der Proteste gab es Forderungen, die Präsenz der Sozialen Arbeit in den Polizeirevieren zu erhöhen und die Polizei durch Sozialarbeiter*innen zu ersetzen. Das ist etwas, das wir strikt ablehnen. Wir Sozialarbeiter*innen sind keine Polizist*innen. Aber wir können auf ähnliche Weise funktionieren, indem wir Gemeinschaften und bestimmte Menschen kontrollieren und überwachen, anstatt ihnen Zugang zu den Dingen zu geben, die sie brauchen.
Cameron Rasmussen: In den letzten Jahrzehnten haben radikale Sozialarbeiter*innen in den Vereinigten Staaten den Begriff »carceral social work« geprägt, um die Beziehung zwischen strafenden Systemen und Sozialer Arbeit zu benennen. Dank dieser Arbeit wurde vor vier Jahren immer mehr Menschen bewusst, dass Soziale Arbeit strafend und überwachend wie die Polizei funktionieren kann und damit die gleichen Probleme reproduziert, die die Polizei verursacht.
»Abolitionistische Soziale Arbeit« bedeutet nicht einfach »Keine Sozialarbeiter*innen auf Polizeireviere«. Worum geht es genau?
Cameron Rasmussen: Soziale Arbeit kann strafend und kontrollierend sein – sei es durch direkte Arbeit für Gefängnisse, für Polizeidienststellen oder durch die Kontrollfunktion, die sie zum Beispiel in der Bewährungshilfe oder im Kinderfürsorgesystem ausübt. Wir wollen abolitionistische Ideen in die Soziale Arbeit einbringen. Ein Teil davon ist die Abschaffung von strafenden Methoden, die Arbeit für strafende Systeme, die Abschaffung der Logik, die die Praxis der Sozialen Arbeit in Bezug auf Überwachung und Kriminalisierung durchdringt. Eine weitere Frage ist: Was bedeutet es, wenn Soziale Arbeit nicht strafenden Logiken folgt. Wir brauchen Kritik. Aber wir müssen auch wissen, was daraus folgt. Was bedeutet das für die Welt, die wir aufbauen wollen?
Durrell M. Washington und Cameron Rasmussen
Durrell M. Washington ist Sozialarbeiter und Pädagoge und promoviert an der University of Chicago. Cameron Rasmussen ist Sozialarbeiter und Assistant Professor an der University of Hawai’i. Beide sind Mitwirkende im »Network to Advance Abolitionist Social Work«.
Durrell M. Washington: Das Buch soll eine Anregung sein, sich mit dem Thema über die bloße Kritik hinaus auseinanderzusetzen und in die Praxis mitzunehmen. Wir sind der Meinung, dass die Soziale Arbeit ein Beruf sein sollte, der in Solidarität und Befreiung verwurzelt ist und Menschen mit verschiedenen Bedürfnissen in ihrem Recht auf Selbstbestimmung unterstützt. Auch soziale Gerechtigkeit ist einer der Kernwerte. Wenn ich diese Worte höre, dann passt das für mich mit Abolitionismus zusammen. Das Problem ist: Aus meiner langen Praxis als Sozialarbeiter weiß ich, dass wir manchmal das Gegenteil tun, dass wir uns nicht von diesen Werten leiten lassen.
Cameron Rasmussen: Und deshalb ist Teil der abolitionistischen Sozialen Arbeit die Rückbesinnung auf einige Kernwerte des Berufs – nämlich Gemeinschaften zu organisieren, strukturelle Gewalt zu bekämpfen und Menschen in ihren alltäglichen Kämpfen zu unterstützen. Wir müssen versuchen, diese Aspekte in unserer Arbeit zu praktizieren, angefangen bei der Art und Weise, wie wir mit unseren Kolleg*innen und Chefs umgehen, bis hin zur tatsächlichen Arbeit.
Wie lässt sich das konkret in der Sozialen Arbeit organisieren?
Cameron Rasmussen: Es gibt einen Ansatz von Gramsci, der für die abolitionistische Praxis in der Sozialen Arbeit hilfreich ist. Ich habe ihn durch die Organisation »Interrupting Criminalization« kennen gelernt. Gramsci bezieht sich ursprünglich auf den Kampf gegen den Faschismus in den 1930er Jahren. Der Ansatz unterscheidet zwischen dem Agieren gegen den Staat, dem Handeln außerhalb des Staates und der Tätigkeit im und um den Staat. Gegen den strafenden Staat kann Soziale Arbeit versuchen, Menschen aus Gefängnissen herauszuholen, Inhaftierte zu unterstützen und das mit reformistischen Bemühungen zur Verringerung der Größe und Macht des strafenden Staates zu verbinden. Außerhalb des Staates geht es um Dinge wie transformative Gerechtigkeit oder »mutual aid« (gegenseitige Hilfe), um die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen. Ansätze, die von Menschen entwickelt wurden, weil sie dem Staat nicht vertrauen, von ihm geschädigt wurden oder weil der Staat die Bedürfnisse der Menschen nicht befriedigt.
Es ist schwer, sich von der strafrechtlichen Logik zu lösen.
Durrell M. Washington
Und die Arbeit rund um den Staat?
Cameron Rasmussen: Die ist kompliziert, denn dort findet die Soziale Arbeit am meisten statt, und überall ist sie mit dem Staat verwoben. Wir sagen oft, dass Sozialarbeiter*innen zum Beispiel nicht direkt für das Gefängnissystem arbeiten sollten. Aber wenn wir nicht mehr in ein Gefängnis gehen würden, würde das bedeuten, dass wir die Menschen dort ohne jegliche Unterstützung von außerhalb zurücklassen. Man muss Kompromisse eingehen, um mit Gefangenen zu arbeiten oder um im Gefängnis Kurse anzubieten. Aber das ist etwas anderes, als wenn man direkt für den Staat arbeitet, der die Gefangenen einsperrt. Es kommt darauf an, wem gegenüber man rechenschaftspflichtig ist. Wenn man direkt für den Vollzugsstaat arbeitet, ist man in erster Linie diesem gegenüber rechenschaftspflichtig.
Du sprichst Kompromisse an. Diese in der täglichen Arbeit auszutarieren, führt sicher zu Spannungen.
Cameron Rasmussen: Es ist ein Unterschied, abolitionistische Prinzipien zu formulieren und sie als lohnabhängige Sozialarbeiter*innen jeden Tag zu leben. Würde man das tun, könnte man seinen Job oder seine Finanzierung verlieren. Im Buch denken wir über die systemischen Ebenen des Abolitionismus nach und auch darüber, was das für die konkrete Berufspraxis bedeutet. Deshalb gibt es Kapitel über Schadensbegrenzung und transformative Gerechtigkeit und darüber, wie man zum Beispiel mit Drogenkonsumierenden oder mit Menschen in Gewaltkontexten arbeitet.
Durrell M. Washington: Für mich besteht die größte Spannung in dem, was wir selbst tun. Ich bin PhD-Student an der University of Chicago und unterrichte auch hier. Der Uni-Präsident hat neulich die Campus-Privatpolizei gegen vier Uhr morgens auf uns Studierende angesetzt, um ein friedliches Palästina-Protestcamp zu räumen. Ich komme trotzdem jeden Tag zum Arbeiten an die Uni. Würden wir streng nach den abolitionistischen Prinzipien leben, hätten viele von uns keinen Job. Im Buch geht es um genau diese Spannungen und darum, wie wir Raum schaffen, um darüber zu sprechen. Es gibt ein paar offensichtliche Dinge, zum Beispiel als Sozialarbeiter*innen nicht bei der Polizei zu arbeiten. Aber strafrechtliche Logiken sind in der Struktur von einigem, an dem wir als Sozialarbeiter*innen beteiligt sind, verankert. Es ist schwer, sich davon zu lösen.
Mimi E. Kim, Cameron Rasmussen und Durrell M. Washington (Hg.): Abolition and Social Work: Possibilities, Paradoxes, and the Practice of Community Care, Chicago 2024, 264 Seiten.