Dialektik der Entwicklung
Vor 50 Jahren erschien Walter Rodneys »How Europe Underdeveloped Africa« – eine deutsche Neuauflage ist längst fällig
Von Paul Dziedzic und Merle Groneweg
Was sich die Verleger*innen der Übersetzung von Rodneys Klassiker »How Europe Underdeveloped Africa« (wörtlich: Wie Europa Afrika unterentwickelt hat) gedacht haben, als sie für die deutsche Übersetzung den Titel »Afrika – Die Geschichte einer Unterentwicklung« wählten? Fünfzig Jahre nach Erscheinen des Originals im Jahr 1972 ist die Aussicht auf einen besseren Titel nur ein Grund für eine editierte Neuausgabe in deutscher Sprache – zumal die 1973 beim Verlag Klaus Wagenbach erschienene Übersetzung längst vergriffen ist.
Im englischsprachigen Raum hingegen blieb Rodneys Werk stets ein relevanter Bezugspunkt für Akademiker*innen wie Aktivist*innen. Rodney, so schreibt es Angela Davis in ihrem Vorwort zu der 2018 bei Verso Books erschienenen Neuauflage, ist ein »scholar-activist«, ein aktivistischer Wissenschaftler, im besten Sinne des Wortes. Der Begriff entfalte seine Lebendigkeit, wenn er »die produktive Leidenschaft beschreibt, die Walter Rodneys Forschung mit seiner Entschlossenheit verbindet, den Planeten von den Auswüchsen von Kolonialismus und Sklaverei zu entledigen«.
Der Name Walter Rodney ist heute neben jenen von C.L.R. James oder Frantz Fanon fest mit dem Schwarzen Marxismus verknüpft. 1942 in der britischen Kolonie Guyana geboren, verließ Rodney das Land, um am University College of the West Indies in Jamaika zu studieren. 1963 zog er nach London, wo er an der School of Oriental and African Studies, einst eine Universität für die Kolonialverwaltung, promovierte. Rodney brach mit der Tradition der Universität und schrieb zur Geschichte des Sklav*innenhandels an der westafrikanischen Küste. Der Autor gehörte einer aktivistischen Studiengruppe an, die sich unter Leitung von C.L.R. James traf – und von deren Teilnehmer*innen schließlich einige später den Verlag Bogle-L’Ouverture gründeten, der Rodneys Werke erstmals herausgab.
Rodney reiste fortwährend zwischen den Kontinenten, die den »Schwarzen Atlantik« bildeten und sorgte mit seinem Aktivismus für Aufsehen. Er beobachtete den von Schwarzen Student*innen und Arbeiter*innen angeführten Bewegungszyklus in der Karibik zwischen 1968 und 1970. Im ereignisreichen Jahr 1968 wurde er selbst zum Gegenstand einer Revolte in Jamaika, wo er an seiner alten Universität lehrte. Der Regierung Jamaikas missfiel sein Engagement in der Black-Power-Bewegung, woraufhin sie ihn von der Insel verwies. Als Proteste von Studierenden gegen diese Verbannung brutal von der Polizei niedergeschlagen wurden, entstand ein veritabler Aufstand, der sich auch Arbeiter*innen anschlossen und die als Walter-Rodney-Rebellion in die Geschichte ging. In Tansania, wo seit 1962 eine sozialistische Regierung unter Julius Nyerere herrschte, war Rodney dagegen willkommen. Er lehrte dort bis 1974 an der Universität von Dar Es Salaam, einer Stadt, die zu dieser Zeit Treffpunkt internationaler Marxist*innen war.
Fernab der politischen und ökonomischen Zentren der Macht forderte er die rassistisch geprägte Geschichtsschreibung und liberale Ökonomie heraus.
Es war kein Zufall, dass Rodney sein wohl bekanntestes Werk »How Europe Underdeveloped Africa« in Tansania schrieb. Fernab der politischen und ökonomischen Zentren der Macht forderte er die rassistisch geprägte Geschichtsschreibung und liberale Ökonomie heraus. Rodney argumentierte: »Die heutige Situation wurde nicht durch eine getrennte Entwicklung von Afrika auf der einen Seite und Europa auf der anderen erreicht, sondern durch Ausbeutung.« Schon damals hatte der Begriff »Unterentwicklung« etwas vorurteilsbehaftetes. Doch Rodney wählte ihn bewusst und erklärte: »Entwicklung und Unterentwicklung sind nicht nur Begriffe, die einen Vergleich ermöglichen, sie sind auch in einem dialektischen Verhältnis zueinander, das heißt, in ihrer Wechselwirkung tragen sie zur Entstehung des jeweils anderen bei«. Anders gesagt: Afrika ist unterentwickelt, weil Europa entwickelt ist. Rodney widersprach den noch heute gängigen Annahmen, dass es sich bei den asymmetrischen Entwicklungen um etwas »Naturgegebenes« handele und kämpfte gegen die Verdeckung der Gewaltbeziehung im Kolonialismus an. Letztlich, so schrieb er in seinem Buch, hätten alle Afrikaner*innen »die Verantwortung, das System zu verstehen und auf dessen Sturz hinzuarbeiten«.
In seinem Text erklärt er, wie sich durch koloniale Herrschaft, Versklavung, die Durchsetzung des Eigentumsrechts und Handelsmonopole die gewaltvolle Integration in das vollzog, was heute »Welthandel« genannt wird. Rodney zeigte das Aufeinandertreffen ungleicher Produktionsweisen mit ihren unterschiedlichen technologischen Errungenschaften, die schließlich zur Kolonisation führten – und einer asymmetrischen Integration in das kapitalistische System.
Nach der Sklaverei, die afrikanische Gesellschaften direkt oder indirekt schwer traf, folgte die Kolonialisierung. Auf die Inwertsetzung von Arbeitskraft folgte auch jene von Land; die Ausbeutung weitete sich aus. Die Profite flossen zurück nach Europa und ermöglichten dort Investitionen in die fortschreitende Industrialisierung. Auf dem afrikanischen Kontinent führte die auf die Anforderungen der westeuropäischen Industrien ausgerichtete Produktion und Arbeitsteilung zur Abhängigkeit von wenigen agrarischen und mineralischen Exportgütern – ein fortwährender »Verlust von Entwicklungschancen«. Diese internationale Arbeitsteilung trifft auf viele Länder noch heute zu: Ihre Wirtschaft beschränkt sich auf den Export weniger Primärrohstoffe.
Wie andere Dependenztheoretiker*innen war Rodney ein scharfer Kritiker der postkolonialen Bourgeoisie. Damit machte er sich mächtige Gegner*innen – das zeigte sich nicht nur in Jamaika. 1974 kehrte Rodney nach Guyana zurück und war in der Working People’s Alliance aktiv, die einen klassenbasierten Mobilisierungsansatz verfolgte. Nur ein Jahr später, mit gerade mal 38 Jahren, wurde er von seinen politischen Gegnern durch eine Autobombe ermordet.
Im Jahr 2020 – inmitten der Black-Lives-Matter-Proteste – wurde an Rodney anlässlich seines vierzigsten Todestags erneut erinnert. Nicht zuletzt aufgrund der wirtschaftlichen Rezession im Kontext der Pandemie mehrten sich wieder die Rufe nach einem Schuldenschnitt für afrikanische und karibische Staaten. Forderungen wie diese hatte auch Rodney formuliert: Statt sich bei den ehemaligen Kolonisatoren zu verschulden und Zinsen zurückzahlen zu müssen, müssten sie Reparationen verlangen. Um letztlich nicht nur formell politisch, sondern auch wirtschaftlich unabhängig zu werden, müsse »der radikale Bruch mit dem internationalen kapitalistischen System« vollzogen werden. »How Europe Underdeveloped Africa« ist nicht nur eine detaillierte historische Einordnung der Dynamiken und Folgen von Kolonialismus und Sklaverei, es ist auch eine polit-ökonomische und gesellschaftliche Analyse, die für heutige transnationale antirassistische und antikapitalistische Bewegungen aufschlussreich sein kann.