Aufstand der Perversen
Vor 50 Jahren erschien in Frankreich die zwölfte Ausgabe der Zeitschrift Recherches – sie sollte das revolutionäre Potenzial schwuler Homosexualität entfesseln
Von Hanno Hinrichs
Vor genau 50 Jahren beging der französische Psychiater Felix Guattari ein folgenschweres Verbrechen: Er veröffentlichte eine Zeitschrift. Nicht irgendeine, sondern die notorische zwölfte Ausgabe der Recherches. Sie trägt den provokanten Titel »Drei Milliarden Perverse: Große Enzyklopädie der Homosexualitäten«. Aufgrund pornografischer Inhalte wurde sie umgehend verboten, die Vernichtung aller Exemplare angeordnet und Guattari zu 600 Francs verurteilt. Die Liste seiner Komplizen kann sich sehen lassen: Gilles Deleuze, Michel Foucault, Jean-Paul Sartre, Guy Hocquenghem – beinahe die gesamte intellektuelle Avantgarde Frankreichs war an der Publikation beteiligt.
Das Corpus Delicti ist eines der Schlüsseldokumente der französischen Schwulenbewegung. Die meisten Artikel wurden von männlichen Mitgliedern des Front homosexuel d’action révolutionnaire (FHAR), einer linksradikalen Homosexuellengruppe, verfasst. In frivolem Detailreichtum legen sie ihre sexuellen Praktiken offen und verführen das Publikum auf eine Reise durch das schwule Paris: in die Toiletten der Kunsthochschule, unter die Brücke des Vorortes Clichy, in eine Badeanstalt am Place de l’Étoile. Die Autoren machen deutlich, dass sich die Perversion nicht im heimischen Schlafzimmer einsperren lässt. Sie streift durch Cafés, Hotels und öffentliche Toiletten, die sogenannten Klappen. Schaut man genau hin, taucht sie an allen Rändern der Öffentlichkeit auf.
Das lässt die Zeitschrift auch so gefährlich erscheinen. Der FHAR hatte es nicht bloß auf die rechtliche Gleichstellung einer sexuellen Minderheit abgesehen. Er verstand die vorherrschende Heterosexualität als Symptom der bürgerlichen Gesellschaft, die das vielseitige Begehren unter dem Primat des Phallus bändigen will. »Deshalb sollte unsere revolutionäre Aktivität darin bestehen, mit allen Mitteln die Homosexualität der schweigenden Mehrheit in ihrer antihomosexuellen Paranoia keimen zu lassen«, schlussfolgert Christian Maurel in seinem Aufsatz »Ärsche und Energien«.
»Drei Milliarden Perverse« wurde aufgrund pornografischer Inhalte umgehend verboten.
Maurels Arbeit bildet das Herzstück der Zeitschrift. Sie liest sich als kritische Replik auf Guy Hocquenghems »Das Homosexuelle Begehren«, welches ein Jahr zuvor erschienen war und zum Manifest der französischen Schwulenbewegung avancierte. Da den einzelnen Beiträgen in »Drei Milliarden Perverse« keine Autorennamen zugeordnet sind, wurde der Text bis vor wenigen Jahren Hocquenghem selbst zugeschrieben. Er hatte dem homosexuellen Begehren ein revolutionäres Potenzial beigemessen; das Treiben in den Klappen galt ihm als Prototyp der befreiten Lust. Maurel trübt diese Hoffnung: Selbst der dreckigste Analverkehr bliebe oft in der heterosexuellen Schablone gefangen.
Eine Möglichkeit des Ausbruchs sieht er in der wechselseitigen Penetration: »Schlüssel und Schloss zugleich ist dieser gefickte Ficker die beste Kreuzung zur Aufspaltung der Rollen, denn nur ein umkehrbares Arschficken ist subversiv«, so Maurel. »Wenn ein solchermaßen mit zwei Penissen ausgestatteter Körper nicht mehr wüsste, wem diese Penisse gehörten, wenn er sie beide annullieren könnte«, dann würde das Primat des Phallus durch den Anus nivelliert. Oder wie es einer der anderen anonymen Autoren formuliert: »Der Schwanz verlor seinen Sinn als Penis/Phallus und wurde eine Maschine des Zitterns und Zitternlassens.«
Aufgrund ihrer radikalen Kritik der Heterosexualität werden die Arbeiten von Hocquenghem und Co als Vorläufer der Queer Theory gehandelt. Jedoch unterschlägt diese Rezeption wichtige Differenzen. Wenngleich Foucault an der Herausgabe der zwölften Recherches beteiligt war, hat seine Theorie kaum Spuren hinterlassen. Erst in den 1990er Jahren fand die Diskursanalyse – neben der Dekonstruktion Jacques Derridas – ihren Platz im queeren Methodenkoffer. Die Genossen des FHAR hingegen interessieren sich weniger für die Sprachregime, in die das homosexuelle Begehren eingebettet ist. Ihr Augenmerk liegt auf den sexuellen Praktiken selbst.
Wo die Performativitätstheorie Judith Butlers heute Gefahr läuft, sich von den materiellen Verhältnissen zu entkoppeln, liest sich »Drei Milliarden Perverse« als Korrektiv. »Können wir Sex produzieren? Durch welche Verkopplungen, welche Arrangements?«, fragen die Autoren in der Einleitung und rufen zur Mittäterschaft auf: »Einige Tricks kennen wir schon. Was bringt ihr dazu, um unsere Sammlung zu vervollständigen? Seid ihr bereit zu kollektivieren?« So erscheint Sexualität – in Anlehnung an die ökonomischen Produktionsverhältnisse – als eine physische Verkehrsform, die das Potenzial zum Widerstand birgt. Wer eine materialistische Theorie der Homosexualität sucht, kann hier erste Versatzstücke finden.
Darüber hinaus überzeugen die Texte durch ihre psychoanalytische Methodik – entgegen der harschen Freud-Kritik von Deleuze und Guattari. Auf eine beinahe therapeutische Art legen die Perversen die Untiefen ihres Begehrens frei, um sie analytisch durchzuarbeiten. Dabei treten Phänomene an die Oberfläche, die in der heutigen Debatte gerne verdrängt werden; darunter auch rassistische Objektbesetzungen, die am Beispiel sexueller Verhältnisse zwischen französischen Schwulen und arabischen Proletariern zur Sprache kommen. Das ermöglicht tiefsichtige Reflexionen: »Wer ist er? Mein Spiegel. Er ist Ich; und weil er ein Stück Scheiße ist und ich mich verachte, bin ich auch ein Stück Scheiße.«
Diese Selbstkritik gelingt nicht immer, was sich vor allem in den Ausführungen zur Pädosexualität niederschlägt. In einigen Beiträgen äußert sich der Anspruch, auch das kindliche Begehren aus den Zwängen der heterosexuellen Familie zu befreien – ein Versuch, der sich auf die psychoanalytischen Erkenntnisse über die infantile Sexualität beruft. Leichtfertig unterschlagen die Autoren, dass diese vermeintliche Befreiung viel größere, oftmals gewaltvolle Abhängigkeiten erzeugen kann. Solche Verirrungen ziehen sich symptomatisch durch die Schwulenbewegung der 1970er Jahre und demonstrieren die Dialektik der sexuellen Revolution. Vielleicht klingt es prüde, aber manchmal ist die Versagung des Begehrens emanzipativer als ihre unkontrollierte Entfesselung.