Welcher Fortschritt?
Aufgeblättert: »33 Mythen des Systems« von Darren Allen
Von Dieter Reinisch
Der Wohlstand steige, weltweit sinke die Armut, während wir in zunehmendem Frieden leben. Über den angeblichen zivilisatorischen Fortschritt der Menschheit seit dem Beginn des Kapitalismus vor 500 Jahren ranken sich unzählige Mythen. Der britische Autor Darren Allen nimmt sich 33 von ihnen vor, um das vorherrschende System zu kritisieren. In seinem Band spannt er einen weiten Bogen von Wirtschaft, Klassengesellschaft und Bildung bis hin zu Religion und Geisteskrankheit. Kurzweilig, weil prägnant und klar, dekonstruiert er die einzelnen Mythen. Doch bei aller Systemkritik sieht der Autor jeglichen kulturellen, sozialen und ökonomischen Fortschritt als bedauernswert an. Selbst die Entwicklung der Schrift ist vor dieser Kritik nicht gefeit. Das System, das Allen beschreibt, begann vor 12.000 Jahren, als die Menschen sesshaft wurden. Warum es dazu kam, erfährt man nicht. Aber jeder weitere Fortschritt hätte zu Verschlechterungen geführt. Seit der Bronzezeit vor 5.000 Jahren wäre dieses System nahezu gleich geblieben. Da Allen die unterschiedlichen Phasen der menschlichen Entwicklung seit der Sesshaftwerdung nicht anerkennt und Fortschritt einzig als Niedergang ansieht, behauptet er auch, dass die allgemeine Lebenserwartung nach der Antike im Feudalismus stieg. Wie in vielen anderen irrigen Annahmen bietet er für diese falsche Behauptung keine Datengrundlage. Allens Buch bietet eine utopistisch-libertäre Kritik an der Menschheitsentwicklung aus anarcho-anthropologischer Perspektive. Den Fans von David Graeber wird es gefallen.
Darren Allen: 33 Mythen des Systems. Ein radikaler Leitfaden durch die Welt und uns selbst. Promedia, Wien 2023. 208 Seiten, 22 EUR.