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|ak 668 | Diskussion

ZeroCovid, ZeroCops

Ein solidarischer Shutdown richtet sich auch gegen den autoritären Staat

Von Daniel Loick

Menschenmenge in London beim Social Distancong, ohne Abstand und Masken
Eher selten von polizeilichen Kontrollen und Maßnahmen betroffen: Menschen, die überwiegend der weißen Mehrheitsgesellschaft angehören. Foto: Garry Knight / Flickr, CC BY 2.0

Im Jahr 2020 kam eine durch die Corona-Pandemie beschleunigte Care-Krise mit einer Krise des Polizeiapparates zusammen. Eine emanzipatorische Alternative zum Status Quo kann nur aus einem Zusammendenken der durch diese beiden Krisen verstärkten Protestbewegungen entstehen. Wie lässt sich aber die Pandemie bekämpfen, ohne selbst auf autoritäre Maßnahmen zurückzugreifen?

So viel ist bekannt: Sowohl bei den Ansteckungen als auch bei schweren Krankheitsverläufen und Todesfällen sind Mitglieder marginalisierter Gruppen überproportional häufig vertreten. Sie leben allgemein unter gesundheitsschädlicheren Bedingungen, haben schlechtere Möglichkeiten, sich zu isolieren, einen schlechteren Zugang zu Gesundheitsversorgung und sind zudem häufig institutioneller Diskriminierung im medizinischen Bereich ausgesetzt. Diese Menschen arbeiten häufig in Jobs, die einerseits als »systemrelevant« anerkannt werden, die sie aber kontinuierlich der Gefahr einer Erkrankung aussetzen. Im Extremfall stellt der Staat auch gezielt Bedingungen her, die für einige Menschen die Vermeidung einer Ansteckung nahezu unmöglich machen: Die Internierungen in Gefängnissen und Lagern ist unter den gegebenen Umständen gleichbedeutend damit, das Leben bestimmter Bevölkerungsgruppen für entbehrlich zu erklären. 

Ausgangssperren und Alkoholverbote bieten der Polizei auch zusätzliche Anlässe für Racial Profiling und Schikane.

Auch die Polizei wirkt nicht auf alle gleich: Mitglieder marginalisierter Gruppen geraten häufiger ins polizeiliche Visier, machen häufiger die Erfahrung physischer und psychischer Gewalt durch staatliche Instanzen, werden häufiger eingesperrt und deportiert. Diese grundsätzliche Repressionserfahrung hat sich seit Beginn der Pandemie verschärft. Amnesty International hat in zwei Reports aufgezeigt, dass die Corona-Maßnahmen weltweit zu einer drastischen Zunahme des staatlichen Gewaltaufkommens geführt haben, etwa in Form von Verhaftungen, Razzien, Grundrechtseinschränkungen, Zwangsräumungen, Abschiebungen und Internierungen.

In Europa betrifft dies insbesondere die erzwungene Einsperrung von Rom*nja und mobilen Menschen, menschenrechtswidrige Behandlungen von Geflüchteten und rassifizierten Minderheiten sowie die weitere soziale Ausgrenzung von Wohnungslosen, zum Beispiel durch Bußgelder etwa bei Verstoß gegen die Maskenpflicht. Ausgangssperren und Alkoholverbote bieten der Polizei auch zusätzliche Anlässe für Racial Profiling und Schikane. Neben den unmittelbaren Gewalteffekten auf die Betroffenen verschlechtern diese Maßnahmen auch die Möglichkeiten der Corona-Prävention: Sozialer Ausschluss untergräbt den Zugang zu Gesundheitsversorgung, Einsperrung verunmöglicht physische Distanznahme.

Debatte über ZeroCovid

Der am 14. Januar veröffentlichte Aufruf »ZeroCovid: Das Ziel heißt Null Infektionen! Für einen solidarischen europäischen Shutdown« hat viele Reaktionen ausgelöst. Eine Begründung der ZeroCovid-Forderung von Verena Kreilinger und Christian Zeller findet sich in ak 667. Eine Kritik an der Initiative formulierte Alex Demirović. Auf diese Kritik entgegneten unter anderem Sebastian Reinfeldt auf dem Semiosisblog und Thomas Sablowski bei der Zeitschrift Luxemburg und Barbara Koslowski und David Ernesto García Doell auf dieser Seite. Im Mosaik Blog diskutieren Verena Kreilinger und Christian Zeller (Pro) und Benjamin Opratko (Contra) über die Kampagne. Die Initiative Solidarisch gegen Corona brachte Überlegungen dazu, was ein Shutdown von unten eigentlich bedeuten würde, in die Debatte ein. Jeja Klein argumentierte, dass das Eintreten für eine solidarische Pause im Sinne von ZeroCovid auch eine feministische Strategie sei. Ramona Lenz und Mario Neumann wiederum kritisierten, dass die Forderung nach einer Null-Infektionen-Politik nur autoritär durchgesetzt werden könne.

Aus einer abolitionistischen Perspektive – einer Perspektive, die sich für die Abschaffung rassistischer, kapitalistischer und patriarchaler staatlicher Gewalt einsetzt – muss es also darum gehen, zwei Frontlinien miteinander zu verbinden: Sie muss sich sowohl gegen die Ungleichheit in der Gesundheitsversorgung richten, als auch gegen staatliche Repression, die überwiegend marginalisierte und rassifizierte Menschen, aber kaum jemals die Skifahrer*innen in St. Moritz trifft. Dies bedeutet auch, dass die Intensivierung polizeilicher Methoden kein Weg sein darf und kann, die Verbreitung des Virus zu bekämpfen.

Es gibt aber nicht nur die beiden Alternativen: für den autoritären Staat oder für ein unkontrolliertes Laufenlassen der Pandemie. Der Aufruf #ZeroCovid hat vielmehr den Raum dafür geöffnet, den Kampf um Gesundheit und Teilhabe mit einer polizeikritischen Perspektive zu verbinden. Wie könnte das aussehen?

Neue gesellschaftliche Akteur*innen denken

Viele der Kritiken am ZeroCovid-Aufruf monieren, die Forderung nach einem solidarischen Shutdown beinhalte eine Akzeptanz von oder sogar den Ruf nach mehr autoritären Maßnahmen seitens des Staates. So behauptet Alex Demirović, Regeln zur Kontaktbeschränkung ließen sich nur polizeilich durchsetzen und unterstellt den Unterzeichnenden gar den Wunsch nach »Internierungen in Quarantäne-Lagern«. (1) Diese Befürchtung ist zumindest nicht ganz absurd, wenn man bedenkt, dass einige Bundesländer schon »Corona-Knäste« für Quarantäne-Verweiger*innen eingeführt haben.

Der Vorwurf zeugt jedoch auch von einer bemerkenswerten Fantasielosigkeit in Bezug auf gesellschaftliche Akteur*innen. Auch die linken Kritiker*innen scheinen sich soziale Transformation nicht anders, als durch staatlich exekutierte Maßnahmen vorstellen zu können.

Der Aufruf hat aber eine andere Stoßrichtung: Es geht explizit nicht um einen »harten Lockdown«, sondern um einen »solidarischen Shutdown«, ein »Abschalten« also, das gerade nicht durch den Staat, sondern die Zivilgesellschaft durchgesetzt wird: Gewerkschaften, soziale Bewegungen, solidarische Initiativen. Paketzustellung, Après-Ski und Wurstproduktion stehen still, wenn dein starker Arm es will. Nachbarschaftsgruppen können Versorgung sicherstellen und so das Zuhausebleiben ermöglichen. Hausbesetzungen erschließen Quarantäne-Möglichkeiten für Wohnungslose. Ein No-Border-Aktivismus muss das Lagersystem und die Abschiebeknäste angreifen. Vor allem beim letzten Punkt wird deutlich, dass Corona-Prävention nicht nur nicht polizeilich umgesetzt werden kann, sondern gegebenenfalls sogar frontal gegen die Staatsgewalt gerichtet ist. 

Soziale Infrastruktur schaffen

Die Pointe des ZeroCovid-Aufrufs ist, die Aufmerksamkeit von einer Verbotslogik weg, und hin zu einer Ermöglichungslogik zu lenken. Die dahinterstehende Analyse lautet, dass die meisten Menschen nicht deshalb andere anstecken, weil sie egoistische Schweine sind, sondern weil sie keine andere Möglichkeit haben – vor allem, weil sie zur Arbeit oder in die Schule müssen oder weil ihnen die materiellen Grundlagen für ein Zuhausebleiben fehlen. Neben dem Runterfahren aller nicht-essenziellen Teile der Ökonomie geht es auch darum, verfügbare Ressourcen von der, wie Pierre Bourdieu es ausdrückt, repressiven »rechten« zur sozialen »linken Hand« des Staates umzuverteilen.

Die Pointe des ZeroCovid-Aufrufs ist es, die Aufmerksamkeit von einer Verbotslogik weg und hin zu einer Ermöglichungslogik zu lenken.

Diese Forderung ist schon deshalb richtig, weil sie die Voraussetzungen für eine Entlastung des völlig überforderten Gesundheitssektors und für eine bessere Verteilung der Sorge- und Reproduktionstätigkeiten schafft. Allerdings schärft der Abolitionismus den Blick auch auf die disziplinierenden Funktionsweisen des Wohlfahrtsstaates. Auch sozialpolitische Maßnahmen haben häufig ausschließende oder normalisierende Effekte. Die Soziologin Vanessa Thompson macht dies anhand des Beispiels von Kayla Williams deutlich, einer schwarzen Frau, die im März 2020 in London einer Corona-Erkrankung erlag, nachdem sich zuvor der Notdienst trotz starker Symptome geweigert hatte, sie ins Krankenhaus aufzunehmen – ein Beispiel dafür, dass auch die Krankenhäuser häufig nach einer rassistischen Logik verfahren. Abolitionistische Initiativen betonen daher die Notwendigkeit, die autoritären Anteile der Gesundheitsversorgung zurückzudrängen, indem sie demokratisiert, unter Kontrolle der Communities gestellt und so zu einem gesellschaftlichen Gemeingut wird.

Das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit neu definieren

In der bisherigen Diskussion über das Verhältnis von »Sicherheit« und »Freiheit« überwiegen philosophisch recht konventionelle Positionen. Während die einen die bürgerliche Freiheit gegen »totalitäre« Bestrebungen verteidigen wollen, erklären die anderen Freiheit und Sicherheit als sich gegenseitig bedingend. Die abolitionistische Perspektive hilft, die Schwachstellen beider Perspektiven zu beleuchten. Der bürgerlich-liberale Freiheitsbegriff, der die individuelle Autonomie durch Maskentragen, Mobilitätseinschränkungen oder Konsumverbot gestört sieht, blendet aus, was eigentlich die Bedingungen dieser Freiheit sind: Weil meine Freiheit von deiner Freiheit abhängt, kann sie nicht darin bestehen, dass ich dir ins Gesicht husten darf.

Ein solcher Freiheitsbegriff ist auch nur scheinbar gegen staatliche Repression gerichtet. Denn weil die bürgerliche Gesellschaft, wie Marx sagt, auf der »Absonderung des Menschen vom Menschen« basiert, weil es ihr nicht etwa um Freiheit von Herrschaft, sondern um die Freiheit des Privateigentums geht, kann sie keine inneren Bindungen voraussetzen und ist stets auf die Polizei als »Versicherung ihres Egoismus« angewiesen.

Auf der anderen Seite scheint aber auch die Position verkürzt, die das Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit einfach für nichtig erklärt. Eine solche Position denkt nicht mit, dass Freiheit auch das Risiko einschließt, das Bedrohliche, den Exzess, die Destruktivität, das Unkonstruktive und Unproduktive – oder was die Gesellschaft dafür hält. Wir sollten nicht vergessen, dass der Appell zum gesunden Leben schon oft dafür benutzt wurde, anormale Lebensweisen zu diskreditieren oder zu unterwerfen. Deshalb müssen gerade auch die antisozialen Aspekte der Freiheit als wertvolle Elemente des Sozialen anerkannt und ermöglicht werden. Die Herausforderung für einen abolitionistischen Freiheitsbegriff besteht also darin, die sozialen Bedingungen der Freiheit wieder herzustellen, ohne dabei auf disziplinierende Techniken zurückzugreifen.

Wie sich diese drei Aspekte – zivilgesellschaftliche statt staatliche Akteur*innen zugrunde legen, von einer repressiven auf eine partizipative Logik umstellen, einen komplexen Freiheitsbegriff denken – miteinander verbinden lassen, kann man vom AIDS-Aktivismus der 1980er und 1990er Jahre lernen. Andreas Wulf hat zuletzt daran erinnert, dass der Ausstieg aus der AIDS-Krise in Europa und den USA nicht durch einen Kontaktverzicht erreicht wurde. Die Einübung von Safer-Sex-Praktiken resultiert vielmehr aus dem Erfahrungswissen marginalisierter und anormalisierter Lebensformen. Wie der queere Theoretiker Douglas Crimp betont: »It is our promiscuity that will save us.« Queere Subkulturen haben nicht nur die Sorge-Arbeit um erkrankte Freund*innen überall dort organisiert, wo die Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft, Staat und Familie, scheitern, sie haben auch eine weitaus höhere Sicherheit hergestellt, als es der Staat mit seiner »Sexualaufklärung« und seinen Razzien und Crackdowns vermochte. Um #ZeroCovid auf die richtige Weise – also abolitionistisch – zu verstehen, ist eben die Richtung zentral: von unten.

Daniel Loick

lehrt politische Philosophie an der Universität Amsterdam.

Anmerkung:

1) Auch Mario Neumann und Ramona Lenz erblicken in dem Aufruf den Wunsch nach »Grenzschließungen, Mobilitätskontrollen, die Ausweitung polizeilicher Befugnisse und die Nationalisierung der Pandemie-Politik«.