Erinnern, bilden und weiterkämpfen
Zehn Jahre NSU-Komplex: Trotz Zuhören, Lernen und Vernetzen stehen wir woanders, aber immer noch am Anfang
Von Caro Keller
Auch mit zehn Jahren Wissen um den NSU-Komplex haben wir uns über rechten Terror noch nicht zu Ende unterhalten. Wir haben noch nicht zu Ende zugehört. Wir haben noch nicht genug gelernt und aufgearbeitet. Wir haben noch nicht genug getan, um rechten Terror zu stoppen. Selbstgefällig-zynisches Zurücklehnen steht Antifaschist*innen nicht (zu): Auch wir haben den NSU nicht am Morden gehindert, haben die Morde des NSU nicht als neonazistische Taten erkannt und haben vor der Selbstenttarnung nicht mit den Betroffenen gekämpft. Wir sollten uns immer gemeinsam erinnern, weiterbilden und weiterkämpfen. Nach zehn Jahren und in zehn Jahren.
November 2011: Am Ende bestimmten die Neonazis, wann und wie die Mehrheitsgesellschaft erfuhr, dass Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter von Neonazis ermordet wurden. Dass drei Sprengstoffanschläge, einer in Nürnberg und zwei in Köln, rassistische Anschläge waren. Die Angehörigen der Ermordeten, die Überlebenden der Anschläge machten auf ein mögliches rechtes Motiv bereits vor 2011 aufmerksam, aber erst den Neonazis wurde zugehört. Der 4. November ist ein Tag des Triumphes des NSU. Der NSU zeigte: Er wurde nicht von der Polizei gestellt, die lieber die Betroffenen drangsalierte, als in Richtung rechts zu ermitteln, und damit das rassistische Ansinnen der Rechtsterrorist*innen fortsetzte und verstärkte. Er wurde mit-ermöglicht vom Verfassungsschutz, der über 40 V-Leute im Netzwerk des NSU hatte, ihn aber laufen ließ. Neonazis wurden von Medien und der Mehrheitsgesellschaft nicht verdächtigt, für die Mordserie verantwortlich zu sein. Ihre Strukturen wurden nicht zerschlagen, bevor sie losziehen und die zuvor recht öffentlich diskutierten Terrorkonzepte umzusetzen konnten. Daran haben auch wir als Antifaschist*innen sie nicht hindern können.
Daher musste die Selbstenttarnung des NSU auch eine Zäsur für uns als Antifaschist*innen sein. 2011 hieß, dass wir unser Denken und Handeln als Antifaschist*innen auf den Prüfstand stellen und ändern mussten. Und darüber, was dies bedeuten kann, muss auch 10 Jahre später weiterhin gesprochen werden. Vieles hat sich seitdem geändert. Rechte Gewalt wird von vielen als solche erkannt – ohne dass es die Behörden dazu braucht, die rechte Gewalt immer noch nicht zuverlässig erkennen können und wollen. Trotzdem wurde dem rechten Terror nicht die Grundlage entzogen. Die Morde an Armela S., Sabina S., Sevda D., Can L., Selçuk K., Janos Roberto R. Chousein bzw. Hüseyin D., Dijamant »Dimo« Z. und Giuliano-Josef K., an Walter Lübcke, an Jana L. und Kevin S., an Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar, Kaloyan Velkov und an Alex W. wurden nicht verhindert. Was kann also zehn Jahre Wissen um den NSU-Komplex bedeuten?
Die Betroffenenperspektive in den Mittelpunkt stellen
Zehn Jahre Wissen um den NSU-Komplex muss heißen, den Betroffenen zuzuhören. Die Betroffenenperspektive muss im Mittelpunkt stehen. Auch zu diesem zehnten Jahrestag der Selbstenttarnung zeichnet sich ab, dass Bilder der Täter*innen im Vordergrund stehen werden. Was also in diesen Tagen erneut deutlich wird, ist, wie schwer die Sätze von İbrahim Arslan, Aktivist und Überlebender der rassistischen Brandanschläge von Mölln 1992, wiegen: »Die Betroffenen sind keine Statisten. Sie sind die Hauptzeugen des Geschehenen«. Wären sie ernst genommen worden, gäbe es heute wohl eine ganz andere Faktenlage, denn die NSU-Mordserie hätte verhindert werden können. Die Betroffenen vermuteten einen rechten Hintergrund der Morde.
Die Betroffenen vermuteten einen rechten Hintergrund der Morde.
Sie forderten die Beamt*innen auf, in Richtung Neonazis und Rassismus zu ermitteln. Aber in den Ermittlungsakten finden sich keine bedeutenden Bemühungen, diesem Ermittlungsansatz nachzugehen. 2006, nach dem Mord an Halit Yozgat, schlossen sich die Angehörigen zu zwei Demonstrationen in Kassel und Dortmund zusammen, forderten »Kein 10. Opfer« und Ermittlungen zu einem rechten Motiv. Dieser Kampf um Aufklärung endete nicht etwa mit dem 4. November 2011. Die Familien der vom NSU Ermordeten und die Überlebenden der Anschläge ringen bis heute auf unterschiedlichen Ebenen um Aufklärung, Aufarbeitung und ein würdiges Gedenken. Dabei entschlossen sich viele von ihnen, nicht mehr auf leere Versprechungen zu setzen, sondern selbst für Aufklärung zu sorgen. 2021 befinden wir uns nun in einer Situation, in der eine Vielzahl von Überlebenden, Betroffenen und Angehörigen weiterhin keine andere Wahl sieht, als selbst aufzuklären, sei es in München, Kassel, Halle oder Hanau. Menschen, die Anschläge überlebt haben, denen ihre Liebsten durch rechten Terror genommen wurden, sind in diesem Land gezwungen, rechte Gewalt selbst aufzuklären, wenn sie Antworten wollen.
Solidarisch verbunden sein
Zehn Jahre Wissen um den NSU-Komplex heißt, solidarische Netze knüpfen. Anders als vor 2011 kämpfen die Angehörigen und Überlebenden nicht mehr allein. Sie vernetzen sich miteinander und mit solidarischen Menschen, gedenken gemeinsam, decken die Kontinuitäten rechten Terrors auf und leben Solidarität als konkreten Gegenentwurf zu den gesellschaftlichen Konjunkturen rechter Mobilisierungen. Mit einer Vernetzung begann auch die Geschichte von NSU-Watch: Als sich unser bundesweites antifaschistisches Bündnis 2012 den Namen NSU-Watch gab, hatten Antifaschist*innen bereits monatelang in unterschiedlichen Konstellationen ihre Archive und Erinnerungen durchkämmt, um Informationen zu dem zu sammeln, was im November 2011 bekannt geworden war. Mit zwei toten Neonazis im Wohnmobil waren die alten, von manchen Antifaschist*innen nie vergessenen Namen wieder da: Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt, Beate Zschäpe. Und mit ihnen die in den 1990er Jahren recherchierten Strukturen, der »Thüringer Heimatschutz« mit seinen bundesweiten und internationalen Verbindungen. All dies ließ sich mit den Fotos und Recherchen nachweisen. In den alten Neonazi-Fanzines ließ sich zudem nachlesen, was der NSU umgesetzt hatte: die rechten Terrorkonzepte. All das war und ist Grund und Motivation, über ein erstes Aufarbeiten hinaus die Aufklärung des NSU-Komplexes als Antifaschist*innen kritisch zu begleiten. Konkret hieß und heißt das, dass Aktivist*innen von NSU-Watch landauf, landab in parlamentarischen Untersuchungsausschüssen und in Prozessen auf den Plätzen für die Öffentlichkeit sitzen und mitschreiben. Da wir uns aber nicht als reine Beobachter*innen, sondern als Akteur*innen in der Aufklärung des NSU-Komplexes verstehen, dürfen eigene Analysen und Interventionen nicht zu kurz kommen.
Die Angehörigen und Überlebenden, Journalist*innen, engagierte Abgeordnete, Aktivist*innen, Antifaschist*innen, NSU-Watch – wir alle haben uns über die letzten zehn Jahre ein Wissen über den NSU-Komplex, über Neonazis, rechten Terror, Rassismus, die Polizei, den Verfassungsschutz und nicht zuletzt die deutsche Gesellschaft erarbeitet, es dem Staat gegen dessen Widerwillen und Aufklärungsverweigerung abgerungen. Das zeigt, wenn wir solidarische Netzwerke knüpfen, brauchen wir uns nicht auf den Staat zu verlassen, sind nicht zum ohnmächtigen Fordern verdammt. Wir können selbst für Aufklärung sorgen, können rechtem Terror die Grundlage entziehen, indem wir uns rechten Mobilisierungen entgegenstellen und ihnen unsere Solidarität entgegensetzen.
Rechten Terror verhindern
Zehn Jahre Wissen um den NSU-Komplex muss heißen, rechten Terror zu stoppen. Wer sich ernsthaft mit dem NSU-Komplex und Kontinuitäten rechten Terrors auseinandersetzt, hat das gesellschaftliche Zusammenspiel, das zum rechten Terror dazu gehört, klar vor Augen. Rechter Terror funktioniert nicht ohne das Gefühl, einen vermeintlichen Volkswillen auszuführen. Ein solches wird bei Aufmärschen wie Pegida oder den Demos der Corona-Leugner*innen hergestellt und verstärkt. Zum rechten Terror gehören untrennbar die Verantwortung der Behörden und die gesellschaftlichen Narrative, die die Taten immer noch entpolitisieren und verharmlosen und von Einzeltäter*innen sprechen, wo Netzwerke und Ermöglichungsstrukturen in den Blick genommen werden müssten. Dies können zum Beispiel Nachbar*innenschaften, Familien, Arbeitsplätze oder Schützenvereine sein. Es sind nicht immer nur Mitglieder organisierter Kameradschaften, die zu rechter Gewalt bereit sind. Das Wissen, wie rechter Terror funktioniert und wie ernst diese Bedrohung zu nehmen ist, ist da. Es wurde gelernt, die eigenen Analysen ernster zu nehmen, und mit Recherchen wird versucht, aufzudecken, was passiert ist und was geplant ist. Die solidarischen Netzwerke mit Angehörigen und Betroffenen werden immer enger und die verstetigte Auseinandersetzung mit dem Thema rechter Terror hat in den letzten zehn Jahren – trotz allem – vieles verändern können. Das Wissen um rechten Terror und um die Gefahr, die von ihm ausgeht, von muss weitere Verbreitung finden. Zusammen mit der Forderung, dass das Morden aufhören muss. Antifaschist*innen können dabei eines tun: die eigene Rolle in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung um rechten Terror zu reflektieren und wo nötig zu ändern.