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Der Antikoloniale Monat in Berlin trifft den Nerv der Zeit: Globaler Süden und die Diaspora kommen zusammen
Von Paul Dziedzic
In Sachen antikolonialer Diskurs ist Deutschland verglichen mit Großbritannien, den USA oder Mittel- und Südamerika etwas hinterher. Aber das kann durchaus ein Vorteil sein, gerade, wenn die unterschiedlichen Communities zusammen kommen, mit dem Ziel, eine gemeinsame Plattform zu kreieren. Deshalb wählten die Veranstalter*innen des ersten Antikolonialen Monats in Berlin als Auftakt den 12. Oktober. Es ist ein Datum, das in weiten Teilen Nord- und Südamerikas als Kolumbus-Tag, der Tag der Landung, gefeiert wird. Doch die Kritik am Feiertag ist in den letzten Jahren immer lauter geworden, marginalisierte Gruppen betonen, dass der 12. Oktober kein Feiertag ist, sondern ein Gedenktag. Aus ihrer Sicht ist der Kolumbus-Tag der Tag der Invasion. Einer von vielen.
Eine weitere Phase im Aufstieg des Imperialismus begann mit der Berliner Kongokonferenz am 15. November 1884 und der Aufteilung Afrikas unter europäischen Mächten. Dieses Datum bildet daher auch den Endpunkt des Veranstaltungsmonats. Den meisten Menschen ist es nicht einmal bekannt, dabei hatte der Tag weitreichende Konsequenzen, die sich bis heute auswirken: willkürlich gezogene Grenzen, der Missionierungsgedanke Westlicher Mächte, der Ressourcenhunger.
Im Vorfeld des Antikolonialen Monats fand am 5. und 6. Oktober eine Konferenz statt. In Workshops und Panels tauschten sich Menschen aus der Diaspora mit Aktivistinnen aus dem Globalen Süden aus. Zur Veranstaltung kamen viele, überwiegend junge, People of Colour (PoC). Zivilgesellschaftlich geht es bei PoCs und Migrantinnen sonst häufig um Themen wie Rassismus und Antirassismus, oder um Integration. Und diejenigen, die im Globalen Süden für eine bessere Gesellschaft eintreten, wenden sich an die Institutionen der Entwicklungshilfe. Doch welche Rolle spielen PoCs dann? Sind sie Subjekt oder Objekt? Werden sie gehört? Oder dargestellt?
Dass sich vielfältige Organisationen zusammen tun, um eine linke, altermondialistische Position zu formulieren, ist in Deutschland neu. Dass das Konzept des Altermondialismus in Deutschland kaum bekannt ist, spricht Bände. Im Gegensatz zu dem im öffentlichen Diskurs verwendeten Begriff der Globalisierungskritik ist der Altermondialismus eine Globalisierung von unten. Es gibt die postkoloniale Schule, und es gibt sie nicht nur an Universitäten: In vielen Städten übersetzen lokale Initiativen die akademischen Einsichten in die Praxis. Zum Beispiel in Bemühungen um Straßenunbennenungen, die es in immer mehr Städten gibt. Und dann gibt es auch die klassisch linksradikale anti-imperialistische Position. Der im englischsprachigen Raum verhärtete Streit zwischen postkolonialer Theorie und marxistischer Theorie existiert hier noch nicht. Und das ist eine Chance. Und mit den derzeitigen Entwicklungen – Klimaerwärmung, Wasser- und Landknappheit, der Aufstieg Rechter Parteien sowie das Primat des Rohstoffabbaus gibt es genug Gründe, solche Verschiedenheiten beiseite zu schaffen. Die ohnehin nicht einheitliche migrantische und postmigrantische Generation in Deutschland braucht die Vernetzung, das wird bei ähnlichen Veranstaltungen immer wieder deutlich.
Geteilte Verzweiflung, geteilte Hoffnung
Auch in den öffentlichen Medien ist das Thema Kolonialismus im Kommen, doch da entsteht manchmal der Eindruck, es handele sich um eine geschichtliche Auseinandersetzung. Es droht eine liberale Vereinnahmung, eine laue Einsicht ohne Konsequenz. Dabei gibt es durchaus koloniale Kontinuitäten, die es sich anzuschauen lohnt.
Die Zeugnisse der Aktivistinnen gleich am ersten Tag rütteln auf; Abel Coicué, ehemaliger Vertreter des Nasa Volkes, berichtet über Repressionen und Verdrängung in der kolumbianischen Provinz Cauca. Kurz vor Beginn der Veranstaltung wurde ein Mitstreiter ermordet, und auch Coicué ist mit dem Tode bedroht worden. Ähnlich geht es Akivistinnen auf den philippinischen Negros Inseln. Linke Initiativen sind der autoritären Zentralregierung in Manila ein Dorn im Auge. Unter fadenscheinigen Gründen markiert sie Menschen, die sich für die Umwelt einsetzen, oder multinationalen Unternehmen die Stirn bieten. Solche Geschichten lassen die Zuhörer*innen nicht kalt, das Mitgefühl wird zu einem Teil der Konferenz, zwischendurch wird gebetet oder einfach geschwiegen. Aus den vielen geteilten Erlebnissen entsteht ein Mosaik, das die Geschichte des Imperialismus nachzeichnet.
Der Antikoloniale Monat ist auch für den Rest der deutschen Linken von Bedeutung. Doch sind nur wenig weiße deutsche Linke gekommen. Vielleicht, weil viele sich für das Thema Kolonialismus nicht interessieren, palästinensische Aktivistinnen über ihre Kämpfe berichten, oder weil sie einer anderen Bubble angehören. Ihre Abwesenheit macht es aberzugleich für die Aktivistinnen einfacher, sich ohne das Hinterfragen ihrer Erfahrung auszutauschen. Es geht in erster Linie um die Subjektwerdung migrantischer und post-migrantischer Communities, und solche Räume bieten das an. Die Emotionen – seien sie Trauer, Wut, Ohnmacht, oder Freude – werden zu einer Stärke. Denn viele der Teilnehmer*innen kennen diese Geschichten aus ihren eigenen Biografien oder denen ihrer Familien.
Das Panel zu antipatriachalen Kämpfen mit Aktivist*innen aus Kaschmir, Palästina, Brasilien, Rojalat und Sudan verdeutlicht schmerzlich, was es bedeutet, auf mehreren Ebenen mit Repression zu kämpfen. Ebenfalls wichtig war der Workshop zum Thema Rassismus und Antirassismus. Einerseits, weil er die meisten Menschen auf der Konferenz unmittelbarer betrifft. Andererseits, weil auch er dem gleichen Geiste entspricht, der den Kolonialismus vorantrieb, beziehungsweise die Bewegungsfreiheit der Menschen auf der Welt reguliert.
Die Themenauswahl ist breit, weswegen oftmals nicht genug Zeit bleibt, sich über Strategien und politische Ansätze auszutauschen. Andererseits lernen die Teilnehmer*innen von Konflikten und Kämpfen in Regionen der Welt, von denen sie bisher nichts oder nur wenig wussten. Auch ist es nicht immer einfach, zu identifizieren, wie Deutschland konkret in diesen Konflikten involviert ist. Das Land ist Teil des multilateralen Systems, zum Beispiel durch seine zentrale Rolle im Internationalen Währungsfonds, es ist eines der weltweit größten Waffenlieferanten und Standort multinationaler Unternehmen. Das hätte stärker artikuliert werden können, beziehungsweise in den einzelnen Fällen genauer betrachtet werden müssen. Daraus wiederum hätten sich andere Fragen ergeben, zum Beispiel, welche Aktionen vonnöten wären.
Bleibt also zu hoffen, dass diese Energie aufrecht erhalten werden kann, dass der Antikoloniale Monat in den kommenden Jahren weitere Kreise zieht, um auch innerhalb Deutschlands die Themen der migrantischen Communities weiter zu vereinen. Die Veranstalterinnen bitten die Anwesenden abschließend, ihre Bubbles zu verlassen und gerade zu den Veranstaltungen hinzugehen, zu denen sie sonst nicht gegangen wären. Ein guter Vorschlag, nicht nur für PoC und Migrantinnen.